Elise und Alwin Berger an Ernst Haeckel, Cannstatt-Stuttgart, 26. Oktober 1915
Kgl. Wilhelma.
Cannstatt-Stuttgart.
26. Okt. 1915.
Sehr verehrter lieber Herr Geheimrat!
Ihren so lieben Brief nebst dem Bild ihres hübschen kleinen Enkels erhielten wir mit grosser Freude & danken Ihnen herzlich dafür. Es freute uns ungemein nach so langer Zeit etwas von Ihnen zu hören & sind wir sehr froh, dass Ihre Enkelin Ihnen Gesellschaft leistet. Es muss ein liebes Ding sein. Auch Prof. Strasburger’s älteste Enkelin hat das Interesse an Botanik geerbt & hoffen wir, dass unser Bubi auch einst in die Fussstapfen seines Vaters tritt. Doch chi lo sa!
Gestern kam das Buch ‚Die Agaven‘, von Fischer aus Jena! Mein Mann hat dieses Werk(!) vor 18 Jahren, kurz nachdem er nach Mortola || kam, angefangen, bei Ausbruch des Krieges lag es bis auf wenige Seiten fertig gedruckt da, blieb dann über ein Jahr liegen und jetzt ist es endlich fertig! Welch’ ein Schicksal dieses Buch gehabt hat, beschreibt mein Mann im Vorwort, das der Familie Hanbury kein gutes Zeugnis ausstellt.
Wie freuen wir uns, dass die Engländer jetzt so schön in der Falle sitzen. Bald erleben wir es noch, dass die deutsche Fahne auf den Pyramiden weht. Na, die alte Sphinx wird gucken! In ihren alten Tagen wird sie noch manches neue Schauspiel erleben! Ich habe unseren Kindern jedem 1 Pfund Chokolade versprochen, wenn dieser grosse Tag angebrochen ist.
Wir sind jetzt sehr gern in Württemberg! Die Menschen sind alle so freundlich & gemütlich & mein Mann findet überall so viel Entgegenkommen. Der Oberhofmarschall ist ein grosser Pflanzenfreund & versteht auch etwas, was doch viel ausmacht! ||
Auf Ihr versprochenes Bild freut sich Gross & Klein! Unsere sämmtlichen Bilder sind in La Mortola geblieben. Wir sehnen uns oft nach dem schönen blauen Himmel & dem herrlichen Meer. Oft träumen wir, wir seien wieder in unserem hübschen Haus inmitten der Oliven & Kakteen ‒ aber dann danken wir wiedera unserem Schöpfer, dass wir von der Bande fort sind. Noch gründlicher wirkt als Heilmittel gegen die || Sehnsucht nach Italiens sonnigen Gestaden der Gedanke an Lady Hanbury und Anhang! Da verfliegt mir die Sehnsucht wie Morgennebel! ‒ Nein, ich bin heilfroh von dieser falschen Gesellschaft weg zu sein; wenn ich nur erst mein Eigentum wieder bei mir hätte!
Ein grosser Verdruss ist mir, dass ich zunächst wissenschaftlich nicht weiter arbeiten kann. Alle Succulenten sind zunächst ad acta gelegt. Meine Zeit geht darauf mit Verwaltungsgeschäften und dem Studieren gärtnerischer Fragen. Ich soll doch alles wissen und habe doch in La Mortola soviel verlernt oder nicht gelernt. Das Einleben in diese neuen Verhältnisse verlangt von mir ein totales Umlernen & Umdenken. Ich wundere mich manchmal wie ich das bisher fertig bekommen habe. Sonst fühle ich mich wie ein kleiner Minister. Jeden Donnerstag habe ich Vortrag bei dem Oberhofmarschall, sonst habe ich keine Vorgesetzten. Zwei Freiplätze dort (1 in jedem Hause) in den beiden Hoftheatern sind nach langen Jahren der Entbehrung auch nicht zu verachten. Aber der leidige „Dalles“ ist mir treu geblieben. Das Gehalt ist ein sehr kleines, kleiner konnte es gar nicht sein; aber etwas muss zum Klagen bleiben, damit der Mensch nicht zu üppig wird! ‒ Ich freue mich, dass ich diese grosse Zeit mit erleben kann, hoffen wir, dass wir glücklich alles so durchführen können, wie wir es gern möchten! Man lebt, nicht nur von einem Tagesbericht zum andern; Berufsgeschäfte sind so b unbedeutend geworden, wenn wir nicht direkt mit dem Kriege zu thun haben. – Hoffentlich geht es Ihnen fernerhin recht gut, trotz Ihrer Lähmung! Sehr gern würde ich Sie einmal besuchen, aber wer weiss, wann ich nach Hause komme. Mit den besten und herzlichsten Wünschen und Grüssen Ihr treu ergebener
Alwin Berger.
a eingef.: wieder; b weiter am Rand von S. 4: unbedeutend geworden, … Alwin Berger.; c mit Einfügungszeichen x eingef. von Alwin Berger: Noch gründlicher wirkt... Alwin Berger.