Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Karl Wiebel, [Berlin, 21. August 1860]

Hochgeehrter Herr Professor

Obwohl Ihnen persönlich nicht bekannt, erlaube ich mir dennoch, im Vertrauen auf Ihre Güte, und aus Mangel ana anderen Verbindungen in Hamburg, Sie einige Augenblicke um gefälliges Gehör und um Auskunft in einer Angelegenheit zu erbitten, die mich in hohem Grade b interessirt.

Durch die nächsten Angehörigen meines kürzlichc verstorbenen intimend Freundes Johannes Lachmann in Bonn bin ich veranlaßt worden, mich um eine e demnächst zu gründende Professur der Zoologie und vergleichenden Anatomie daselbst zu bewerben, f welche mein Freund, wie ich höre, zu erhalten große Aussicht hatte. Gleichzeitig g erfahre ich jedoch von anderer Seite, daß bereits eine große Anzahl Bewerber, und darunter bekannteh Namen von gutem wissenschaftlichen Klange, sich um diese Stelle beworben haben, so daß nicht viel Aussicht sei, bei dieser bedeutenden Concurrenz mit meiner Bewerbung zu reüssiren. Da Sie mir jedenfalls richtigeri hierüberj Auskunft gebenk können, möchte ich Sie freundlichst bitten, mir mit ein paar Worten l mitzutheilen, obm unter den gegebenenn Umständen eine Bewerbung um die gedachte Stelle überhaupt noch räthlich, und o wie und an welche Stellep dieselbe anzubringen sei. ||

Sind durchaus keine Chancen vorhanden, so würde ich natürlich der betreffenden Behörde nicht erst noch durch ein unnützes Anliegen lästig fallen. Da Sie vermuthlich meinen Namen bisher nicht gehört haben, erlaube ich mir Ihnen ein paar kurze Notizen über meinen bisherigen Studiengang mitzutheilen.

Mit dem Vorsatz Naturwissenschaften, insbesondere Botanik zu studiren, bezog ich zu Ostern 1852, in meinem 18ten Jahre, die Universität Berlin, bald darauf Würzburg. Auf q letzterer Universitätr habe ich (bei zweimaligem Aufenthalt) im Ganzen 6 Semester, in Berlin vier Semester, zuletzt 1 Semester in Wien studirt. Meine anfangs ausschließlich der Botanik gewidmeten Neigungen gingen bald mehr zu Zoologie, Anatomie und Physiologie (besonders unter Koellikers Leitung) über und wurden dann durch Johannes Muellers überwiegenden Einfluß gänzlich der vergleichenden Anatomie und Zoologie zugewandt, wobei mir der mehrjährige vertraute Umgang mit diesem großen Lehrer den ich mehrmals bei seinen Excursionen an die Meeresküste begleiten durfte,s von unschätzbarstem Werthe war. t Im März 1857 promovirte ich in Berlin u als Dr. med. et chir. und absolvirte im folgenden Winter eben daselbst das v preussische Staatsexamen für praktischen Arzt, jedoch nur in der Absicht mich dadurch w x in der medicinischen Facultät einer preussischen Universität y habilitiren zu können. z

Nachdem ich schon mehrmal an den [!] Küsten der Nordsee und des Mittelmeeres besucht hatte, um die mich vor allem fesselnde pelagische Thierwelt zu studiren, aa || trat ich im Januar 59 zu diesem Zweck eine längere 5/4 jährige Reise nach Italien an, wo ich bis zum April 60 weilte, und den Sommer in Neapel, den Winter in Messina arbeitete. Gegenwärtigbb bin ich mit der Ausarbeitung der Resultate dieser zoologischen Forschungen beschäftigt, welche hauptsächlich auf die radiaeren Rhizopoden gerichtet war, von denen ich über 100 neue Arten daselbst auffand. Außerdem beschäftige ich [mich] mit den Vorbereitungen, um mich in cc den nächsten Monaten dd als Privat Docent für Zoologie und vergleichende Anatomie zu habilitiren.

Meine ee bisher veröffentlichten kleinenff wissenschaftlichen gg Ausführungen sind in verschiedenen Aufsätzen zerstreut, nämlich in Muellers Archiv 1855

[1. Über die Eier der Scomberesoces]

2. Über [die Gewebe des] Flußkrebses

3. [Beiträge zur normalen und pathologischen Anatomie der] Plexus choroides

und [4. Über Augen und Nerven der] Seesterne.

Um sich weiter über meine wissenschaftlichen Fähigkeiten und Leistungenhh zu orientiren, darf ich mich auf das Zeugniß ii der Professores Peters in Berlin, Gegenbaur in Jena, Koelliker und Schenk in Würzburg, jj Leydig in Tübingen, Braun und Virchow in Berlin kk berufen.

Ich würde, ll in Anbetracht meiner Jugend, nicht wagen, mich um die Hamburger Professur zu bewerben denkenmm, wenn nn dies mir nicht oo durch die Bande der innigen Freundschaft und gleichen Ausbildung, durch die ich mit meinem Freund verbunden war,pp meines verstorbenen Freundes so nahe gelegt wäre. Ich habe mein Gesammt-Studium in Würzburg und Berlin mit Lachmann zusammen durchgemacht und darf mich wie erqq zu Johannes Müllers engem Schülerkreisrr zählen. Möglicherweise hat Professor Gegenbaur aus Jena welcher in diesen Tagen, um auf 1 paar Wochen nach Helgoland zu gehen, Hamburg passiren wollte, schon über mich dort gesprochen. ss

Ich ersuche Sie nochmals, mein Anliegen nicht ungütig aufzunehmen. Aber ich kenne in Hamburg Niemanden, der mir über tt diese Angelegenheit die gewünschte Auskunft hätte ertheilen können. Näher uu bin ich nur mit dem jungen Physiologen Dr. Wilhelm Kuehne bekannt, welcher aber wohnhaft jetzt noch in Paris ist. Herrn Kaufmann Wehber (Weinhandlung) lernte ich früher auch in Hamburg kennen.

[Text bricht ab]

a eingef.: an; b gestr.: a; c gestr.: soeben; eingef.: kürzlich; d eingef.: intimen; e gestr.: Professur; f gestr.: um; g gestr.: höre ich j; h eingef.: bekannte; i gestr.: am besten; eingef.: richtiger; j korr. aus: hierauf; k gestr.: geben; eingef.: ertheilen; gestr.: ertheilen; l gestr.: den; m korr. aus: um; n gestr.: diesen; eingef.: den gege; o gestr.: ob die; p eingef.: Stelle; q korr. aus: In; r gestr.: Stadt; eingef.: Universität; s eingef. mit Einfügungszeichen am rechten Rand: den … durfte,; t gestr.: Ostern; u gestr.: als in den; v gestr.: prakt.; w gestr.: welches zu bei uns um sich; eingef.: jedoch nur in der Absicht mich dadurch; x eingef. am rechten Rand: jede Habilitation in der med. Fac. einer preuß. Univ.; y eingef.: einer preuss Univ.; z irrtüml. nicht gestr.: erforderlich ist; aa eingef. am rechten Rand: und auch hier, teils unter Johannes Müller theils unter der Leitung, mich mit der pelagischen Thierwelt; bb korr. aus: Gegenwärtige; cc gestr.: nächsten Herbst; dd gestr.: als für; ee eingef. u. gestr.: kleinen; ff eingef.: kleinen; gg gestr.: Abhandlungen sind in; hh eingef.: u Leistungen; ii gestr.: meiner Lehrer; jj gestr.: Braun u; kk irrtüml.: zu; ll gestr.: nicht; mm eingef.: denken; nn gestr.: ich nicht; oo gestr.: so na; pp eingef.: der innigen … verbunden war,; qq gestr.: im gleichen Maße; eingef.: wie er; rr korr. aus: Schülern; ss gestr.: Ich ers; tt gestr.: die persöhnlich; uu gestr.: mit

 

Letter metadata

Genre
Recipient
Dating
21.08.1860
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 50005
ID
50005