Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 20. November 1885
Marburg 20. Nov. 1885.
Geliebter und hochverehrter Freund!
Nur um Sie nicht gleich wieder in Briefschuld zu versetzen, habe ich das Einlangen des mitfolgenden Essays abgewartet, um Ihnen für Ihren lieben, lieben Brief vom 1. dieses zu danken. Jetzt halte ich’s aber nicht länger aus. Das, was ich Ihnen auf wissenschaftlichem Gebiete verdanke, sowie die Sympathie, die Sie meiner Person entgegenbringen und die Theilnahme, die Sie für alles mich Betreffende empfinden, ketten mich an Sie wie an wenig Menschen. Möchte nur recht bald im Befinden Ihrer ver- || ehrten Frau eine nachhaltige Besserung eintreten! Ich weiß, um wieviel weniger das Arbeiten erfrischt, wenn dabei das Herz am Leiden eines geliebten Wesens hängt. Meine jetzige vollendete Heiterkeit – ich bin sehr fleißig, lebe aber außerordentlich einsam – beruht darauf, daß ich meine Kinder in Wien ganz wohlauf und zufrieden weiß. Ich habe mir dafür in neuester Zeit den Ausdruck: An Bord alles wohl, – angewöhnt, der für Briefe sehr bequem ist. Meine Tochter, die Sie herzlichst grüßen läßt, dankt vielmals für die liebe Erinnerung.
Am 15. Jänner kehre ich wieder nach Wien zurück, da bald darauf der Reichs- || rath seine Thätigkeit wieder aufnimmt. Unsere Debatten haben endlich auch in Deutschland gezündet, und wir werden schon dafür sorgen, daß dieses Feuer nicht ausgeht. Meine Schlußworte hat mir der allerhöchste Herr sehr übel genommen. Es thut mir sehr leid, aber ich kann nicht helfen. Ich strebe gar nichts an und zu verlieren habe ich nichts; da gebe ich mich nur der Hoffnung hin, daß ihn meine Schlußworte recht lange verfolgen. Da Sie überhaupt wenig Zeitungen und von österreichischen natürlich höchstens die Neue Freie Presse lesen werden, so sende ich Ihnen die Deutsche Zeitung die meine Rede unverkürzt gebracht hat. Vielleicht finden Sie dafür eine || freie Viertelstunde.
Wie tief ich aber auch in der Politik stecke, mein ganzer Mensch gehört doch der Entwickelungslehre, und es macht mich ganz glücklich, daß Sie Zeit gefunden haben meinen Essay über das Denken zu lesen und daß er Ihnen recht war. Das Jännerheft des „Kosmos“ bringt einen zweiten Artikel über Leslie Stephen, der Sie auch freuen wird. Ich arbeite jetzt an einer umfassenden Einleitung für 25 solcher Aufsätze die ich hoffentlich bald in Einem Band herausgeben kann, dessen Titel: Entwickelung und Glückseligkeit, – lauten dürfte. Ein schöner Tag wird der sein, an dem ich ihn Ihnen sende. Und damit drückt Ihnen aus ganzer Seele die Hand
Ihr treu ergebener
Carneri
Ganz entzückt bin ich über Preyer’s „Seele des Kindes“ und mit Begeisterung gebe ich diesem Entzücken in meiner Einleitung Ausdruck.a
a Text am Kopf von S. 1, um 180° gedreht: Ganz entzückt … Einleitung Ausdruck.