Maria Semon an Ernst Haeckel, München, 21. Februar 1911, mit Nachschrift von Richard Semon
MARIA SEMON | MÜNCHEN 23 | MARTIUSSTRASSE 7
AM 21. Febr. 1911
Teurer, verehrtester Herr Professor,
„Better late than never“ sagt der Englishman, und so hoffe ich, nehmen Sie unsre verspäteten aber wie stets aus anhänglichstem Herzen kommenden Glückwünsche auch jetzt noch freundlich auf. Hoffentlich haben Sie sich von dem kleinen Unfall, den wir durch Freund Giltsch erfuhren, längst wieder erholt und befinden sich so köstlich wohl und unternehmend, wie wir Sie vor nunmehr bald einem Jahr in Mentone sahen.||
Eine Kollegin von Ihnen an Rüstigkeit war bis vor ganz kurzer Zeit meine Mutter, die freilich, was die Jahre betrifft, auf Sie als auf einen Jüngling herabsehen kann. Sie wurde im November, bei vollkommener körperlicher und nahezu vollkommener geistiger Frische 90 Jahre! Leider hat sie vor einigen Wochen einen Fall getan, der sie noch ans Bett fesselt, was natürlich an ihren Kräften zehrt. Ich hatte soeben das Glück, eine Woche in Leipzig an der Seite der geliebten Mutter zuzubringen und mich ihres ungebrochenen Temperaments, ihrer grossen Verstandeskraft zu erfreuen. Nur das Gedächtniss für die Ereignisse der Gegenwart hat nachgelassen.
Wir freuten uns sehr, vor einiger Zeit || Herrn und Frau Dr. Schaxela bei uns zu sehen. Beide sind sehr nett, er ein besonders lebhafter, sympatischer [!] Mensch.
Mein neuestes Uebersetzungsopus, Darwins „Fundaments“ wird Ihnen zugegangen sein, bitte bemühen Sie sich nicht mit einem „Dank“, Sie, verehrter Herr Professor werden zu Ihrem Geburtstag mit Zuschriften überwältigt worden sein; in solchen Zeiten wird einem das Schreiben zur Last. Bitte betrachten Sie mich also nicht als Gläubigerin, sondern immer und jederzeit als Ihre geistige Schuldnerin, Ihre dankbare
Maria Semon.||
[Nachschrift von Richard Semon]
Hochverehrter Herr Professor.
Auch ich sende nachträglich die herzlichsten Glückwünsche. Hoffentlich haben Sie die Folgen Ihres Unfalls bereits wieder ganz überwunden. Im Frühjahr hoffen wir sehr, Sie wieder einmal in München zu sehen.
Ihr treuer und dankbarer
Richard Semon.
a irrtüml.: Schacksel