Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Berlin, 12./13. August 1858

Berlin 12/8 58 Abends 11 Uhr

Zwar ist es zum Briefschreiben schon ein wenig spät, mein liebster Schatz, die Luft drückend gewitterschwül und mein Cadaver vom Laufen und Besorgen ziemlich caput; mein Sinn aber noch so munter, noch so bedürftig, mit meinem Herzen zu plaudern, und überdies noch durch Deinen eben erhaltenen ersten Brief so mächtig erregt, daß ich nicht umhin kann, Auge und Hand noch für Deinen Dienst, mein Eins und Alles, in Anspruch zu nehmen. Das Wichtigste, das ich Dir mittheilen kann, ist, daß ich übermorgen, Samstag, früh, mit Max Schultze nach Jena zu der großen Secularfeier der Universität reise, wozu mich Ersterer heute in Kurzem ohne Mühe überredet hat. Außer der großartigen und interessanten Feierlichkeit der mir so besonders lieben Universität hoffe ich viele Fachgenossen kennen zu lernen. Insbesondere liegt mir a aber daran, Prof. Carus aus Leipzig kennen zu lernen und mit ihm über die italienische Reise zu sprechen. Da es jetzt fast sicher ist, daß Gegenbaur nicht mitgeht, so redete mir Max Schultze (der sehr verständig und umsichtig und gegen mich sehr lieb ist) sehr zu, die Reise im October anzutreten und mit Prof. Carus gemeinschaftlich zu machen, da dieser sehr viele theoretische Kenntnisse besitzt, die mir ganz mangeln; außerdem grade ein solcher Gesellschafter für mich ebenso nützlich als angenehm sein würde. Auch rechne C. schon stark auf meine Reisegesellschaft. || Die Gründe, mit denen mir M. S. zuredete, ließen sich in der That hören und so ist es wahrscheinlich, daß mir diese Jenenser Reise endlich definitiven Entschluß über das „Wann“ und „Wie“ der Reise nach Messina bringen wird. Gewiß wirst Du Dich auch freuen, endlich einmal darüber sicher zu werden, mein lieber, herziger Schatz.

− Nun will ich noch Einiges über die letzten Tage nachholen, wie ich Dir heut früh versprochen. Die Nacht nach dem letzten Abend bei Dir war recht jämmerlich; ich schlief fast nicht und dachte immer und immer wieder, ich müßte noch einmal zu Dir hinaus, um noch Dies und Jenes zu sagen und zu hören. Am Morgen stand ich schon früh auf dem Balkon und begleitete Dich auf den Bahnhof und dann, als ich um 8 Uhr zu Biermann ging, von da weiter, bis ich Dich Abends glücklich in Heringsdorf wußte. Wie fest sitzt Du schon in allen meinen Gedanken, mein herzlieber Schatz! Ich könnt Dich nicht mehr herausreißen, wenn ichs auch nur ¼ Stunde wollte! Ich malte eifrig bis 3 Uhr dann aß Hein bei uns, den ich zum Ersatz und zur Sühne für die schmähliche Behandlung am Sonntag Abend, früh zu Tisch gebeten hatte. Nach Tisch kritisirte er meine Bilder, was mir recht interessant war, da er viel von Kunst versteht. Um 5 Uhr ging ich zu Virchow, der mir erst eine Strafrede hielt, daß ich ihn so lange nicht besucht, dann aber freundlich 1 Stunde mit mir plauderte. Um 6 Uhr ging ich in die (für diesen Sommer letzte) Versammlung naturforschende Freunde, wo botanische Vorträge von Dr. Schacht und Dr. Karsten den Hauptgegenstand bildeten, an den sich auch eine längere Debatte schloß. ||

Dann besuchte ich die Gebrüder Schlagintweit, denen ich die gewünschte Auskunft über einen Chemiker gab, der ihre mitgebrachten 200 Flußwasserproben analysiren sollte. So wurde es 9 Uhr, ehe ich nach Moritzhof hinaus kam, wo meine Freunde da es sehr kühl war, schon wieder weggegangen waren. Ich schlenderte langsam im tiefsten Waldesdunkel, das nur die flimmernden Sterne (die mir alle Grüße von meiner Änni brachten) unterbrachen, durch unsere dichtesten und wildesten Lieblingsparthien des Thiergartens nach Haus, wobei ich recht lebhaft an alle die lieben hier mit Dir verlebten Augenblicke gedachte. Da mein Katarrh inzwischen recht lebhaft geworden war und der rauhe Hals mich schmerzte, meine Gedanken aber noch unruhiger zu Dir hinstrebten, so schlief ich noch schlechter als die vorige Nacht. Doch saß ich trotzdem früh um 8 schon wieder bei Biermann und zeichnete und malte hartnäckig, ohne aufzustehen und aufzusehen, bis es Abends um 8 Uhr schon recht dunkel wurde; nur eine Stunde lag dazwischen, von 2–3, wo ich rasch nach Haus lief und etwas Mittag aß. So wurde das Bild glücklicherweise fertig, nachdem Wolken und Felsen mehr als 6 mal wieder ganz weggewaschen waren. Biermann war diesen letzten Tag noch sehr lieb und nett. Er saß fast beständig bei mir und plauderte, warnte mich vor meinen Fehlern, Alles in nächtiges Dunkel zu kleiden und die Extreme zu suchen, zu wild und zu unruhig zu sein, und lehrte mich Licht und Klarheit zu sehen und zu suchen. Es ist ein gar zu lieber, prächtiger Naturmensch, an dem ich nicht genug mich freuen kann, so einfach, kindlich, natürlich, und dabei so freisinnig, grade, wahr, liberal in jeder Beziehung. ||

Mittwoch Abend waren wir alle 3 bei der Prof. Weiß, wo wir mit Proff. Beyrich’s, Braun’s und dem Prof. der Botanik, Naegeli, aus Muenchen (früher in Zuerich, wo ich ihn auf der Rückreise aus Nizza besucht hatte) einen sehr netten, vergnügten Abend verlebten; nur daß ich periodisch so geistesabwesend war, daß ich die verkehrtesten Antworten gab. Räthselhaft, woher wohl diese sonderbare Zerstreutheit kömmt? –

Heute früh ging ich zunächst Max Schultze, der gestern Nachmittag leider vergebens bei mir gewesen war, bei seinem Bruder aufsuchen. Er war schon ausgegangen; doch forderte mich letzterer auf, abends mit ihm nach dem Gesundbrunnen (eine gute Stunde vor der Stadt) hinauszugehen wo Max S. bei seinem Schwiegervater (und zugleich Onkel!) dem Prediger Bellermann wohnt. Dies that ich denn auch um 5 Uhr und habe da in der lieben Familie einen sehr netten Abend verlebten. Max Schultze ist ein gar zu lieber prächtiger Mensch, so einfach und natürlich, wie ein Kind, dabei einer unserer tüchtigsten Anatomen, von ebenso bedeutenden Fähigkeiten, als energischer Thatkraft und Fleiß. Wie ich sah, wie glücklich und selig er mit seinem lieben, netten Weibe (seiner Cousine) zusammenlebte, wie er mit seinen allerallerliebsten beiden kleinen Jungen spielte, und wie harmonisch und schön er das alles zu vereinen wußte, ohne seinen wissenschaftlichen Pflichten und Strebungen etwas zu vergeben (natürlich die unersetzlichen großen Reisen, für die auch er schwärmt, abgerechnet!), so mußte ich recht lebhaft und mit dem süßen Gefühl seligster Hoffnung auch an ein anderes analoges Päärchen denken! O Du bester Schatz! –

B. 13/8 Abends 11½ Uhr

Obgleich es heut Abend noch später, als wie gestern bei Anfang des Briefes und obwohl ich heute fast noch müder bin, so muß ich doch noch einiges hinzufügen, damit der Brief gleich morgen früh fortkann (zugleich mit mir). Den gestrigen Vormittag brachte ich wieder auf dem Museum zu; Guido Wagner war nach meinem 3tägigen Schwänzen so herzlich und nett, daß ich wirklich ganz gerührt war. Er unterwies mich in feineren Figurenzeichnen und schwärmte außerdem für den „ächten, teutonischen Racentypus, dessen Normalscelett noch nach Jahrhunderten späteren Geschlechtern Kunde von der Kraftfülle germanischer Jünglinge des 19ten geben würde!“ Nächste Woche gehen Wagner, Lieberkuehn und Schultze zusammen nach Venedig und Triest. Gestern Nachmittag, ehe ich zu Schultze ging, bekam ich Besuch von einem früheren Leidensgefährten einem Cursisten, der sich sehr über den unausstehlichen Militärdienst beklagte. Beatus ille qui procul – wir plauderten eine Menge Cursusreminiscenzen durch, und neben den schlechten Stunden mußte ich auch an eine Menge lieber Augenblicke denken, von denen jener freilich Nichts wußte. – Heute früh mußte ich viel Besorgungen in der Stadt und auf der Königlichen Bibliothek machen.

– Den Nachmittag hatte der junge Berliner Zoologencongreß, nämlich: G. Wagner, Lieberkühn, Hartmann, Martens und ich, schon lange verabredet eine gemeinsame Fahrt nach Stralau zu machen, um in den dortigen Gewässern, namentlich dem Rummelsburger See, Versuche mit einem neu erfundenen Instrument „Saugsonde“, zu machen, welches Schlamm (und mit diesem eine Menge der interessantesten Thierchen) aus dem Boden der Seen heraufholt. || Die Versuche befriedigten uns vollkommen und die ganze Fahrt war recht. Wir nahmen um 2 Uhr einen Kahn an der Waisenhausbrücke, in dem wir uns selbst in 2 Stunden nach Stralau hinaufruderten, eine ziemlich heiße Arbeit unter der Glut der durch keine Wolken gelinderten Augustsonne. Dort fischten wir lange in dem See und zwischen den Flößen herum und ich nahm vom Kahn aus ein sehr erquickendes prächtiges Bad, bei dem ich recht lebhaft an die herrlichen Ostseebäder dachte. Hoffentlich ist Dein Katarrh schon so weit wieder weg, daß Du bei Wellenschlag baden kannst. Wenn nur der Hals besser ist. Der Schnupfen wird dadurch nicht schlimmer. Mein Hals war heut auch viel besser und das Bad ist ihm vortrefflich bekommen. Ist diese Sympathie unsrer Kehlen nicht rührend? – Die Rückfahrt machten wir in 1 Stunde. Das angestrengte Rudern machte mir viel Freude, hat mich aber auch so müde gemacht, daß mir die Augen zufallen und ich kaum noch eben packen konnte. Darum schlaf heut wohl, mein süßes Lieb und denk an mich. Morgen (Samstag) werde ich schon früh draußen sein und um 7 Uhr mit Max Schultze abfahren nach Jena. Dort finde ich dann wohl einen poste restante Brief „Herrn Dr. med. Ernst Haeckel aus Berlin – Jena poste restante“ – vor. Doch muß er bis zum Mittwoch dort sein, da ich Donnerstag schon wieder her reise. Hoffentlich finde ich ihn schon Dienstag. Ob ich Dir von Jena aus werde antworten können, weiß ich noch nicht, da die Zeit gewiß sehr besetzt sein wird. Sei 1000mal gegrüßt und geküßt, mein herzlieber Schatz. Gewiß hat Dir heut Abend der liebe Mond, der als dünne rothe Sichel um 9 Uhr unterging, schon meinen Gruß gebracht. Es war ein kostbarer Abend mit prächtigen Gewitterwolken und grandioser Beleuchtung. Überhaupt war die ganze Wasserparthie sehr nett. Ich hatte Dich stets an meiner Seite und wenn die Arme vom Rudern ermattet sinken wollten, trieb ein Hauch von Dir sie wieder an.

Beckmann kömmt wahrscheinlich nicht. – Virchow ist gestern auf vier Wochen nach Misdroy gereist. –b

a eingef.: mir; b Text weiter auf dem linken Seitenrand: Beckmann kömmt … Misdroy gereist. –

 

Letter metadata

Recipient
Dating
13.08.1858
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 44267
ID
44267