Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Heidelberg, 5. September [1856]

Heidelberg 5/9

Freitag Abends

Liebste Eltern!

Ihr werdet euch gewiß wundern, aus Heidelberg schon einen Brief von mir zu bekommen, während ihr mich noch im alten Würzburg glaubt. Das letztere hatte ich aber dermaßen satt, solche Reiseunruhe wirbelte in allen Gliedern, daß ich nicht umhin konnte ein paar Tage früher, als ich eigentlich bestimmt, abzureisen, zumal ihr doch nicht nach Würzburg kommen wollt und andererseits meine beständigen Reise-Ideen kein ordentliches Arbeiten mehr aufkommen ließen. So habe ich mich denn gestern rasch entschlossen, knall und fall Alles in einem Tag mit Hülfe Beckmanns und v. Calls gepackt, und bin dann heute früh unter deren Segenswünschen wohlgemuth und guter Dinge, voll glänzender Hoffnungen und froh, den Krallen der pathologischen Anatomie entschlüpft zu sein, glücklich abgereist. Gestern Abend haben wir 3, d.h. ich mit meinen alten Freunden Beckmann und Call, noch zum letzten Male zusammen geknippen, worauf wir um 2 Uhr zum Bahnhof gingen. Um 3 Uhr ging der Zug ab, kam aber erst um 10 in Frankfurt an. Von dort fuhr ich sogleich hieher, wo ich um 12½ Uhr glücklich ankam. ||

Das anfangs trübe Wetter klärte sich nachher vollständig auf und so habe ich bei der schönsten Beleuchtung noch einen ganz herrlichen Nachmittag gehabt, größtentheils auf dem Schloß, a das ich nach allen Richtungen durchstöbert habe, und dessen Ruinenpracht und südlich üppige Vegetation, namentlich die großen Epheubäume, welche lianengleich die andern Bäume umschlingen und einhüllen, ich nicht genug bewundern kann. Von da stieg ich auf den Königsstuhl (grad über dem Schloß) von dessen Thürmen auf seinem höchsten Gipfel ich bei der schönsten Beleuchtung einen ganz herrlichen Überblick über die ganze nähere und entferntere Umgebung, deren höchster Punkt er ist, genoß. Besonders schön erschienen die den ganzen Horizont krönenden Bergketten: westlich Vogesen, Taunus, nördlich Odenwald (der wie auf einer Landkarte gezeichnet daliegt), östlich schwäbische Alp, südlich: Schwarzwald. Dazu im Mittelgrund die zahlreichen Biegungen des Mains und Rheins, wie auch die Zusammenmündung beider Ströme, und im Vordergrund die coulissenartige Öffnung des Neckars in das Rheinthal. Die Ebene des letzteren übersieht man in großer Ausdehnung, von Straßburg bis Speier und Worms, deren Thürme man deutlich sieht. || Den Rückweg machte ich über die Schweizerei, etwas westlich unterhalb des Kaiserstuhls gelegen, von wo man gleichfalls einen sehr schönen Blick in das Neckar-Rheinthal hat und zugleich von oben die Schloßruine übersieht, deren rother Sandstein mit der reichen grünen Bewaldung einen herrlichen Contrast bildet. Schließlich hatte ich noch einen sehr schönen Sonnenuntergang von der Schloßterrasse ausb, worauf ich über die Brücke und am jenseitigen Ufer etwas entlang spazierte. Von Bekannten traf ich Niemand außer Bertheau.

Morgen werde ich nun nachc Basel reisen, übermorgen nach Biel und am dritten Tag nach Lausanne, wo ich am Genfer See mich ein paar Tage herumtreiben werde. Kölliker hole ich am 11t in Vevey ab.

– Den Creditbrief d von Joachim habe ich schon vor 8 Tagen richtig erhalten.

– Den ersten Brief werdet ihr ja wohl am besten jedenfalls poste restante nach Nizza schicken, wo ich etwa am 15t eintreffen werde.

– Dr. Kunde wird uns wegen einer Arbeit, die ihn jetzt noch beschäftigt, erst später nachfolgen. –

Für heute genug, ich bin äußerst müde.

Herzliche Grüße an die Bonner.

Euer Alter Ernst. ||

Herrn Oberregierungsrath

Haeckel.

p. Adr. Hr. Prof. Bleek.

Bonn.

a gestr.: daß; b korr. aus: auf; c eingef.: nach; d gestr.: werde ich

 

Letter metadata

Dating
05.09.1856
Place of origin
Country of origin
Destination
Bonn
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 43966
ID
43966