Ernst Haeckel an Wilhelm Wundt, Jena, 7. Juni 1875

Jena 7 Juni 75

Hochverehrter Herr College!

Sie werden in diesen Tagen von meinem hiesigen Kollegen, Dr. Fritz Schultze eine Schrift: „Kant und Darwin“ erhalten, die Sie gewiß in mehrfacher Beziehung interessiren wird. Ich möchte diese Gelegenheit ergreifen, den Verfasser derselben Ihrem wohlwollenden Interesse auf das Wärmste zu empfehlen, insbesondere für den Fall, daß Sie in der Lage sein sollten, auf die Berufung Ihres Nachfolgers in Zürich Einfluß auszuüben.

Dr. Fritz Schultze ist mir seit 6–8 Jahren genau bekannt. ||

Ursprünglich ein specieller Schüler von Kuno Fischer, von diesem sehr hochgeschätzt und in seinen Anschauungen erzogen, hat er sich von letzterem allmählich emancipirt und unter dem Einflusse der Entwickelungslehre mehr und mehr mit den Naturwissenschaften befreundet und in sie hineingearbeitet. Gegenwärtig gehört er sicher zu denjenigen Philosophen, die am meisten in unserem Gebiete orientirt sind und die der von Ihnen eingeschlagenen Richtung folgen. Seinem lebhaften Interesse und unermüdlichen Fleiß entspricht ein sehr glückliches Lehrtalent, so daß seine philosophischen Vorlesungen || hier unter allen die besuchtesten sind. Trotzdem – oder vielmehr gerade deßhalb – sind ihm die hiesigen Ordinarii der Philosophie nicht grün und es ist nicht möglich, ihn hier – seinen wirklichen Verdiensten entsprechend – zu befördern. Meine dießfallsigen Bemühungen sind in der (der Majorität nach philosophisch urtheilenden) Facultät eben so vergeblich geblieben, wie meine früheren Versuche, Ihre Berufung nach Jena zu veranlassen.

Um so mehr möchte ich Sie bitten, bei Gelegenheit Dr. Fritz Schultze zu empfehlen, zumal derselbe in allen Gebietstheilen der Philosophie vortrefflich orientirt ist und deren Beziehungen zur Naturforschung zu fördern sucht. ||

Ihre Berufung nach Leipzig, zu der ich Ihnen von Herzen Glück wünsche, hat mich in doppelter Beziehung sehr erfreut: erstens a wegen der Verbesserung Ihrer Stellung und zweitens, weil Sie sicher in den stagnirenden Mehlbrei der Leipziger Gelehrsamkeit einen frischen Sauerteig hinein bringen werden. Ludwig nebst Anhang ist nach Kräften bemüht, die Philosophie von der Naturwissenschaft fern zu halten. Dagegen werden Sie in Zöllner einen werthen Gesinnungsgenossen finden. Hoffentlich statten Sie von Leipzig aus Jena öfter einen Besuch ab.

Mit freundlichstem Gruß

Ihr hochachtungsvoll ergebener

Ernst Haeckel.

a gestr.: erst

Brief Metadaten

ID
43196
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
07.06.1875
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
Universitätsarchiv Leipzig
Signatur
NA Wundt Briefe, Nr. 143
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Wundt, Wilhelm; Jena; 07.06.1875; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_43196