Ernst Haeckel an Wilhelm Bölsche, Jena, 7. September 1904
Jena 7.9.1904.
Lieber Freund Bölsche!
Für Ihren l. Brief und die früher übersandten Karten herzlichen Dank! Ich hätte Ihnen schon längst geschrieben, wenn ich nicht den ganzen Sommer ununterbrochen stark gearbeitet hätte (täglich 5–1 und 3 oder 4 bis 8 abds). Mein letztes Buch, die „Lebenswunder, das ich in Rapallo in 4 Monaten geschrieben, mußte nochmals gründlich revidirt und dann in 6 Wochen – in continuo! – gedruckt werden (35 Bogen!). In nächster Woche wird es fertig und in ca. 3 Wochen Ihnen zugehen. Ich hoffe auf Ihre frdl. Aufnahme! ||
In nächster Woche, wo ich endlich wieder frei werde und Luft schöpfe, wollte ich nach Berlin reisen, um den „klugen Hans“ zu sehen. Allein ein tüchtiger Catarrh, den ich vor 10 Tagen acquirirt, wird mich vor dem 15.9. nicht reisen lassen. Und dann ist es möglich, daß ich auf ein paar Tage nach Rom reise, zu dem universalen Freidenker-Congress am 20. Septb. Ich bin von vielen Seiten sehr dringend darum gebeten worden. Unser Freund Wille geht ja wohl auch hin? || Falls ich erst nachher nach Berlin kommen kann (Anfang October), möchte ich das mathematische Pferd (– das eine Art equiner „Dahse“ zu sein scheint –) gern gründlich untersuchen; denn mit einer kurzen Vorführung wird Nichts erreicht sein. Inzwischen wird aber wohl die „Wissenschaftliche Commission“ schon die nötigen Versuche angestellt haben. Etwas „Wunderbares“ kann ich bisher (nachdem was ich schon früher von gut erzogenen Hunden und Pferden gesehen) bei der außerordentlichen Psyche des „Hans“ nicht finden. Der Unsinn in den Zeitungs-Berichten zeigt wieder, wie wenig unsere „Gebildeten“ die Tierseele kennen. ||
Die Chromolithographie meiner Aquarelle bei Köhler in Gera hat bereits begonnen; ich hoffe daß das Werk gut wird und auch Ihnen zur Freude gereichen wird. – Daß Sie mit der neuen Bearbeitung von Carus Sterne „Werden und Vergehen“ viel Arbeit haben, glaube ich gern; es ist aber keine verlorene Mühe, und ich freue mich, daß das vortreffliche Werk unter Ihrer meisterhaften Feder neugeboren erscheinen wird. – Hoffentlich sehe ich Sie im Octbr. in Berlin.
Mit herzlichsten Grüßen an Sie und Ihre liebe Frau
Ihr alter
Ernst Haeckel