Ernst Haeckel an Elisabeth Magarethe Hantzsch, später Volkmann, Jena, 11. Juni 1911
Jena 11.6.11.
Liebste Else!
Schon längst habe ich Dir schreiben und für Deinen lieben Brief vom 14.5. danken wollen. Aber die 8 Wochen, die seit meinem Unglücksfall verflossen sind, waren so wenig zum Briefschreiben geeignet, daß ich nur die dringendsten von mehr als 300 Condolenz-Schreiben (aus aller Welt) beantworten konnte. Inzwischen wird Deine liebe Mama, die uns jeden zweiten Tag durch ihren Besuch erfreut, schon berichtet haben, daß es mir langsam besser geht. Ich hinke täglich 1/2 Stunde (auf Krücken) in meinem Zimmer umher und liege Nachmittags einige Stunden (auf einem Rohrstuhl) auf meinem lieben Balkon, mit der schönen Aussicht auf die Kernberge, Horizontale, Ziegenhain, Fuchsturm etc. || Aber in den Garten und zum Spazieren-Fahren werde ich erst im Juli kommen können. Du verlierst also diesen Sommer in unserer einsamen Medusen-Villa Nichts! Auch die hübschen Familien-Diners in Villa Medusa, die uns vorigen Sommer erfreuten, haben aufgehört. Wir leben ganz still! – Dein Sommeraufenthalt an der schönen Felsenküste von Ilfracombe wird Dich mit ganz neuen Eindrücken bereichern, ebenso wie das Englische Familienleben, das von dem unsrigen so verschieden ist. Das kirchliche Ceremonien-Wesen wird hoffentlich die naturphilosophischen Grundsätze, die Du hier neun Jahre im Zoologischen Privatissimum gewonnen hast, nicht verdrängen! Wenn Du einmal eine Bootsfahrt machst, nimm ein paar Gläser mit, fülle sie mit Seewasser, und spüle darin das (umgestülpte!) || Schmetterlingsnetz aus, mit welchem Du langsam über die Oberfläche der See gefahren bist (einige Minuten). Du wirst dann Hunderte von kleinen Crustaceen und anderen Plankton-Tieren im Glase wimmeln sehen. Wenn die schönen Medusen-Schwärme kommen (im Juli und August) mußt Du die einzelne Qualle („Yelly Fish“) – ohne sie zu berühren – in ein Glas mit weiter Mündung hineinschlüpfen lassen. – Hoffentlich machst Du im Aquarell Malen nach der Natur hübsche Fortschritte? Achte zunächst immer auf die Haupt-Umrisse (Konturen der Berge, Küste, Häuser etc.) und verliere Dich nicht im Detail! – Im October werden wir hoffentlich hier noch schöne Herbsttage zusammen verleben. Großmama, die mich treulich pflegt, grüßt Dich mit mir herzlichst!
Mit besten Wünschen Dein treuer alter Großvater
Ernst Haeckel ||
[gedrucktes Rundschreiben:]
Aus Anlaß des schweren Unfalls, der mich am 20. April d. J. betroffen hat und der einen Bruch im linken Hüftgelenk zur Folge hatte, sind mir überaus zahlreiche Kundgebungen herzlicher Teilnahme zugegangen. Da ich außer Stande bin, allen einzelnen Freunden und Gesinnungsgenossen meinen aufrichtigen Dank schriftlich auszusprechen, bitte ich, ihn in diesen Zeilen entgegennehmen zu wollen.
Um vielen Anfragen nach meinem jetzigen Befinden und zukünftigen Aussichten zu genügen, füge ich noch die Mitteilung hinzu, daß die Fractur des Oberschenkelhalses (innerhalb der Gelenkkapsel) relativ günstig verlaufen ist, da beide Bruchflächen fest ineinander verkeilt sind. Indessen wird die langwierige und schmerzhafte Heilung (im 78sten Lebensjahre) immerhin sehr langsam verlaufen und eine dauernde Verkürzung des Beines hinterlassen. Mehrere Monate werde ich noch an das Zimmer gefesselt sein. Besonders bedaure ich, daß dadurch mein Arbeitsplan dieses Jahres, die Einrichtung des Phyletischen Archivs und die Niederschrift meiner Lebenserinnerungen, auf unbestimmte Zeit verschoben ist.
Ernst Haeckel.
Jena, 18. Mai 1911.