Ernst Haeckel an Karl Haeckel, Jena, 27. Oktober 1886
Jena 27 Oct 86
Lieber Bruder!
Beifolgend schicke ich Dir gewünschte Cöln-Mindener Nr. 14, 207, – ferner das einzige Photogramm unsers brüderlichen Bilds, das ich jetzt finden konnte. Ich muß davon noch 3 und 4 haben, muß sie aber irgendwo in meinem Bilderschrank verlegt haben.
– Ferner lege ich die Rechnung von Max Ferd. Richter bei, aus der Du Alles Gewünschte ersiehst. || Bitte hebe sie mir aber auf. – Das Faß mit Wein habe ich vor 5 oder 6 Tagen erhalten. –
Deine Marie, lieber Bruder, würde ich sehr gerne auf einige Wochen bei uns aufnehmen. Aber meine Frau behauptet, daß es jetzt nicht anginge, aus Gründen, die ich Dir nächstens mittheilen werde. Nach Ostern, || sobald Lisbeth in Pension ist, wird uns Marie sehr willkommen sein. Es ist mir sehr leid, daß ich Deinen Wunsch nicht erfüllen kann! Aber so wie die Dinge nun einmal (leider!) liegen, ist es nicht möglich! Agnes ist sehr nervoes und hat jetzt wieder mehrere Tage zu Bette gelegen. || Unser Winter wird voraussichtlich sehr einsam sein, da Agnes sich möglichst zurückziehen will. Näheren Verkehr haben wir ohnehin nicht mehr. a – „Glücklich ist, wer vergißt, Was doch nicht zu ändern ist“!
– Ich stecke tief in meiner Arbeit, und finde immer mehr, daß bei meinen Verhältnissen das das Beste ist! –
Mit herzlichem Gruß
Dein treuer
Bruder Ernst ||
27/10 88
II
Liebster Bruder!
Privatissime (d. h. mit der Bitte, Niemand (– und namentlich Mütterchen nicht–) diese Zeilen mitzutheilen, will ich Dir doch kurz mittheilen, warum Agnes sich hartnäckig weigert, jetzt den Besuch von Marie (– wie jeden anderen Besuch –) bei uns aufzunehmen. Sie hat auch eine ähnliche Bitte ihrer Nichte Else Reimer in Berlin kürzlich abgelehnt. || Der Gründe sind eigentlich viele, und deßhalb vielleicht keine recht stichhaltig:
1. Die Gesundheit meiner Frau, die allerdings viel zu wünschen übrig läßt: Das ewige alte Thema: Nerven! Zum Spazierengehen, das ihr der Arzt empfiehlt, kann ich sie nicht mehr bringen; überhaupt nur keine Anstrengung!! –
2. Die Beschäftigung der beiden Töchter, die durch jeden Besuch gestört werden sollen, besonders Lisbeth in ihrem letzten Schul-Semester (zugleich als Confirmandin)
– Leider ist ja Agnes wirklich kränklich und nervenschwach; allein ihre Methode, nur jede Anstrengung zu vermeiden, macht das Übel noch schlimmer! Ich kämpfe dagegen seit 19 Jahren vergebens, und habe es längst aufgegeben, eine Besserung darin herbeizuführen. – Bei jedem Besuch (– wenn es auch nur ein Mittags Gast ist) dieselben Schwierigkeiten! Jede kleine Gesellschaft eine ungeheure Aufgabe! So ist es kein Wunder, daß wir keinen näheren Umgang haben! || Bei Richters’ neulichem Besuch (der Agnes sehr unwillkommen war!) hatte ich von vornherein schon dem Ehepaar deßhalbb erklärt, daß sie leider nicht bei uns wohnen könnten. Da lädt Agnes selbst sie c bei Tische zum Übernachten ein, und sie bleiben natürlich!! – Ich muß dann Tagelang Klagen hören! – Hätte ich nicht meinen guten Humor von Natur, und meine ewige Arbeit, ich hätte längst auf und davon gehen können! – Mir ist eben „der Widerspänstigen Zähmung“ nicht geglückt! ||
III
Sage Mariechen noch besonders, wie Leid es mir thut, sie jetzt nicht aufnehmen zu können. Vielleicht kann sie nach Bonn zu Gustchen Bleek gehen; ich will gerne die Reisekosten tragen.
– Die kurzen, an sich nicht erfreulichen Mittheilungen, bitte ich Dich, liebster Bruder, für Dich zu behalten, und nicht allzu tragisch zu nehmen. Die liebe Gewohnheit hilft über Vieles hinweg! || Außerdem tröstet mich über Vieles, was Andere zur Verzweiflung bringen könnte, meine monistische Lebens-Philosophie; auch sagt unser Goethe nicht umsonst:
„Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß!“ –
Habe ich mich 52 Jahre durchgeschlagen, wird’s auch noch weiter gehen! –
– Antwort nicht nöthig!
Dein treuer E.
a gestr.: „G; b eingef.: deßhalb; c gestr.: zu