Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Jena, 24. April 1861

Jena 24. 4. 61.

Liebe Eltern!

Nachdem die erste Unruhe des Auspackens und Einrichtens vorüber ist, soll es mein Erstes sein, euch Lieben aus meiner neuen Heimath den freundlichsten Gruß zu schicken. Bringt ihn auch die Sonne so frisch und froh hinüber, wie sie mir heute Morgen durch meine Fenster schien, so wird er euch gewiß erfreuen. Meine kleine Wohnung, ganz im Freien gelegen, ist recht dazu angethan, sich froh und glücklich zu fühlen, und ich wünschte nur, ihr könntet bei mir sein, um dies Behagen zu theilen. Das nächste Mal werde ich sie euch ordentlich beschreiben; heute sollt ihr von meiner Herreise und den ersten Tagen in Jena hören. Wie Vater schon berichtet haben wird, traf ich in Berlin auf dem Bahnhof Herrn Reinhold Pinder, stud. oecon., den Sohn des Oberpräsidenten, welcher sich zu mir in die III Cl. setzte, obwohl er ein Billett II Cl. genommen hatte. Er unterhielt sich auf dem ganzen Wege sehr nett mit mir und zeigte sich in der That sehr liebenswürdig, wie mir schon Tante Weiß von ihma gesagt hatte. Nachdem die Schwierigkeiten in Betreff des Unterbringens der verschiedenen Gläser mit eingemachten und lebendigen Thieren, der Zeichenmappe, Manuscripthefte, Taschen, Stöcke etc beseitigt waren, ging die Fahrt glücklich von Statten. Insbesondere ist herauszuheben, daß die Actinophrys und die andern Infusorien des Thiergartens, die zum ersten Male auf der Eisenbahn fuhren, die lange Fahrt glücklich, und ohne seekrank zu werden, überstanden haben. || In der Mark war überall schon rechter Frühling eingezogen; die Saaten bereits hoch und prächtig grün und stellenweis sogar schon blühende Obstbäume. Hier in Thüringen ist Alles noch weiter zurück; der Winter dauert noch recht kalt und rauh fort. Von meiner Reisegesellschaft ist außer Herrn Pinder, mit welchem ich namentlich viel politisirte, nur noch ein Italiäner aus Mailand zu erwähnen, welcher mit Familie in unserem Coupée mitfuhr und nicht wenig erstaunt war, als ich ihn plötzlich italiänisch anredete. Die Fahrt von Apolda nach Jena geschah mit dem berühmten „Bummler“, einer Schneckenpost, welche die merkwürdige Tugend besitzt, diese Strecke von 2 Meilen in längerer Zeit, als ein tüchtiger Fußgänger braucht, zurückzukehren [!]. Diesmal wurde die Fahrt noch dadurch verzögert daß der ganze Wagen mit Studenten voll gepackt war, welche aus den Ferien zurückkehrten und nun in jeder Kneipe, die am Wege lag, sich am Genusse des edlen Lichtenhayner Bieres erlabten. Der Wagen war so voll, daß Herr Pinder vorn auf dem Bock sitzen mußte. Ich ging gleich nach der Ankunft in meine Wohnung, und war nicht wenig erstaunt, das Haus aufs festlichste und freundlichste geschmückt zu finden. Neben der Treppe, die von dem unten liegenden Acker zu dem freien Vorplatze vor dem freundlichen weißen Hause hinaufführte, standen vier junge schmucke Fichten, welche || durch lange, schwebende Moosguirlanden aufs zierlichste umwunden und verbunden waren. Ebenso standen vor der Hausthür oben 4 stattliche ältere Tannen, ebenfalls durch Mooskränze verziert und durch lange Guirlanden, die reizend mit Kirschblüten geschmücktb waren, verbunden. In der Mitte zwischen den beiden größten Tannen prangte in großem Mooskranze ein weißer Schild, auf welchem in großen goldenen Buchstaben die Worte standen: „Gott segne Ihren Einzug!“ Der ganze Weg bis hinab zum Felde war mit Blumen bestreut und ebenso Blumen in die Moosguirlanden und Kränze eingeflochten, mit denen auch das ganze Haus aufs freundlichste geschmückt war. Einen so außerordentlich lieblichen Empfang nahm ich mir für das beste Omen meines Einzugs, obgleich ich mir sagte, daß da wohl eine ganz besonders festliche Ursache zu Grunde liegen müsse. Das erfuhr ich denn auch gleich beim Eintritt in das Haus, wo die Magd allein zu Hause war, und mir sagte, daß ich, wenn ich 2 Stunden früher gekommen wäre, an dem Hochzeitschmause meines Wirths, der gestern Polterabend gemacht habe, hätte theil nehmen müssen. Da also all die Herrlichkeit einer Hochzeit galt, war sie mir doppelt lieb, und ich schmeichelte meinem Herzen mit der Einbildung daß sich das freundliche Häuschen in diesem Jahre noch einmal zu demselben Zwecke ebenso festlich herausputzen und schmücken müsse. ||

Der Habitus meiner Erkerwohnung entsprach beim ersten Eintritt dem freundlichen Empfange nicht vollständig. Zwar der reizende Blick aus den Fenstern auf das Saalthal und dessen Bergec erfreute mich nicht weniger, als wie ich sie das erste Mal sah; aber die netten Stuben selbst sahen ziemlich wirr aus. Die Meubles standen unordentlich umher und auf dem Tische lag ein ganzer Haufen von Mahagonisplittern, abgebrochenen Leisten u. dergl. Dem entsprach denn auch das Aussehen der Meubles die fast alle mehr oder weniger stark beschädigt, und namentlich an den Ecken u. Kanten zerstoßen sind. Am meisten leid thaten mir die beiden großen Glasschränke, wo ganze Stücken der Plattirung abgestoßen waren. Der Tischler, sagte mir das Mädchen sehr naiv, habe alles absichtlich so gelassen, damit ich erst selbst sähe, wie schlecht die Sachen herübergebracht seien. Dieser Monsieur, den ich mir gestern Morgen gleich kommen ließ, scheint nun allerdings ein rechter Halunke zu sein und ist wahrscheinlich allein an dem schlechten Transport u. den Beschädigungen Schuld, obwohl er seinerseits alle Schuld auf die Eisenbahn schiebt, wo die Meubles ganz schlecht gepackt gewesen seien. Auch hätte ich alle Schränke zu schwer bepackt. Nun sind aber gerade die Schränke, die ganz leer waren, nämlich die beiden großen Glasschränke, am meisten beschädigt, so daß diese ganze Entschuldigung wohl nur eine leere Ausflucht ist. || Wie sehr sich dieser edle Meubel-Transporteur angestrengt hat, könnt ihr daraus sehen, daß er alle Kisten unten auf dem Hofe hat stehen lassen, weil er behauptete, sie seien so schwer gewesen, daß 8, sage acht! Mann sie nicht hätten herauf schaffen können. Dieselben Kisten haben aber in Berlin 3 Mann transportirt. Das Hauptstück bei dem ganzen Transport ist, daß man Niemanden für alle diese Beschädigungen verantwortlich machen kann; der Tischler schiebt sie der Eisenbahn zu, und diese würde den Vorwurf natürlich ihm zurückgeben. Das Beste ist also, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und das traurige Fait accompli mit Würde zu tragen. Ich habe also das Vergnügen gehabt, gestern und heute den ganzen Morgen einen Tischlerjüngling bei mir zu haben, welcher die Beschädigungen durch Anleimen, Anstreichen v. rother Farbe etc. möglichst unschädlich gemacht hat. Ich habe inzwischen diese beiden Tage benutzt, um alle Sachen auszupacken und in Ordnung einzuräumen. Die Glas- und Porcellan- Sachen sind alle im besten Zustande herübergekommen, worauf Anna, die sie gepackt hat, gewiß besonders stolz sein wird. Hoffentlich kommt auch Koffer und Kiste recht bald, damit ich mich endlich komplet einrichten kann. Es ist dies besonders insofern sehr wünschenswerth, als ich absolut keine reine Leibwäsche zur Disposition habe, so daß ich gegenwärtig in einem Professors-Hemde von Gegenbaur umherwandle; auch Ernst Reimer hat mir, gleich als er || von meiner Wäsche- Noth hörte, 2 Hemden zugeschickt. Du siehst also, lieber Vater, daß sich die patriarchalische Communio bonorum auch in Jena mit Erfolg fortsetzen läßt! – Das Professorshemd sitzt mir übrigens vortrefflich und wenn es mit den Vorlesungen ebenso gut geht, soll michs von Herzen freuen.

Montag Abend v. 5-6 soll ich also die erste vom Stapel laufen und ich muß gestehen, daß mir bei diesem Gedanken doch etwas schwül wird, zumal ich mich noch gar nicht präparirt habe. Denkt dann also ordentlich an mich! Mittwoch werdet ihr Nachricht haben, wie es damit gegangen ist. Vorläufig rechne ich kaum auf ½ Dutzend Zuhörer. Gegenbaur, der gestern sein Colleg über vergleichende Anatomie angefangen, hat auch nur 6 gehabt. Fast noch mehr, als vor der Vorlesung, fürchte ich mich vor den 60 Visiten, von denen ich, aus Mangel an Visiten- Costüm, das im Coffer steckt, auch noch nicht eine einzige gemacht habe. Bisher habe ich nur Gegenbaur und Bernhard Schultze (den Bruder von Max) gesehen, mit denen ich gestern u. vorgestern Abend im Bären zusammen war. – Euch geht es hoffentlich gut, liebe Alten. Besonders hoffe ich, daß Du, liebste Mutter, Dich bald wieder ganz erholt haben wirst. Schreibt mir recht bald und seid aufs herzlichste gegrüßt von eurem treuen Ernst. Grüßt alle Freunde etc.

a eingef.: von ihm; b kor. aus: verzier; c korr. aus.: Hänge;

 

Letter metadata

Genre
Dating
24.04.1861
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 37750
ID
37750