Haeckel, Charlotte

Charlotte Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 14. Mai 1855

Mein lieber theurer Ernst!

Wie sehr habe ich mich jetzt darnach gesehnt, Dich bei mir zu haben, um mal recht traulich mit Dir plaudern zu können. Vor allem liegt mir eins schwer auf dem Herzen, das ist, weil ich doch sehe, daß Dir die praktische Medicin so schwer wird; ich habe als Frau ja gar kein Urtheil darüber, und doch muß ich mit Dir davon sprechen. Hältst Du selbst es für nützlich und gut für Dich, wenn Du den medicinischen Kursus durchmachst? und ist dies Dein eigner Wille es durchzuführen? oder thust Du es || bloß aus Gehorsam gegen Deinen Vater? Mir ist es als hättest Du mehrmals geäußert das Studium der M. wäre Dir doch auch sehr nützlich, wenn Du auch nie praktischer Arzt würdest und Dich später bloß der Naturwissenschaft widmetest. Ich denke mir immer, daß Deine Ansichten noch sich ändern könnten, wenn Du tiefer in die M. eindringen würdest, und daß es Dir eine beruhigende Sicherheit für Dein Fortkommen geben würde, wenn Du es || durchmachst. Ist dem aber nicht so; und hast Du die feste Ueberzeugung nach ernster Selbstprüfung; daß es besser für a Dich ist, wenn Du die M. ganz aufgiebst; dann bitte schreibe mir ganz offen darüber; ich will b dann Vater alles vorstellen; und sehe was zu machen ist; aber wie gesagt, dazu gehört, daß Du mit Dir selbst zu Rathe gehst, wie es für Dich am beßten ist. Daß Du, wenn || Du den jetzt betretnen Weg fortgehst, zwei Jahr Dich nur wenig oder wie Du meinst gar nicht mit Naturwissenschaft beschäftigen kannst, das ist kein Grund, die M. aufzugeben. Du bist noch jung und kannst noch viel lernen; und wie ich Dich kenne, so habe ich auch das Vertrauen zu Dir, daß Du mit Muth und Entschlossenheit das durchführst, was Du für das Rechte erkannt hast. Ich will nur nicht daß Du etwa bloß || aus kindlichem Gehorsam die M. durchmachen sollst. Freilich haben Lichtenstein, Ehrenberg etc immer gesagt, es sei auch für Dein Fortkommen nöthig; doch können die sich ja auch irren, und die Verhältnisse in den Wissenschaften haben sich vielleicht auch so geändert, daß jetzt ein anderer Maaßstab angelegt werden muß als damals, als diese Männer jung waren. Doch wie gesagt, mein lieber, theurer Ernst, Du hast ja das Leben || mit seinen Verhältnissen so weit kennen gelernt, daß Du Dir selbst ein Urtheil bilden kannst, und einen Entschluß fassen, wie Du Deine Studien fortsetzen willst.

Die Bekannten erkundigen sich immer nach Dir. Weißens werden Donnerstag über 8 Tage nach Töplitz reisen, wo sie mit Klementinen bleiben wird um das Bad zu brauchen, er kommt nach Pfingsten wieder her. –

Nun leb wohl, mein lieber Ernst, denke fleißig an Deine Mutter.

a gestr.: Deine für; b gestr.: mit

 

Letter metadata

Recipient
Dating
14.05.1855
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 36152
ID
36152