Haeckel, Heinrich

Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Straßburg, 1. Mai 1880

Strassburg, den 1. Mai 1880

Lieber Onkel!

Der undankbare Schlingel läßt auch gar nichts von seiner Faustreise hören, wirst Du wohl im Stillen gedacht haben. Allein: tout comprendre, c’est tout pardonner und, da Du ja nur zu gut weißt, wie die Wucht eines Semesteranfangs über den Studiosen und Docenten lastet, so wirst Du mirs ja wohl verzeihen.

Alles ist auf das Schönste abgelaufen. Vom Bahnhof in Weimar aus gieng ich gleich zum Theater und fand dort zu meiner großen Freude für beide Abende ein Billet Parterre-Sperrsitz vor, dank Deiner Empfehlung an Loën. Sie waren zwar an der Seite, doch ziemlich nahe der Bühne, so daß ich Alles aufs| Beste gesehen habe.

Die Aufführung selbst hat mir ganz außerordentlich gefallen. Die liebevolle Hingabe an das große Werk, die man in allen Einrichtungen durchfühlte, hoben über einzelne Mängel der Schauspieler glücklich hinweg; das Wunderbarste war mir, daß ich mich an Stellen, wo besonders das sehr schlecht spielende Gretchen und der ewig deklamierende Faust, bei weitem nicht dem entsprachen, was die Phantasie vorgebildet, vollkommen in das alte Faustpuppenspiel versetzt glaubte, in jenen merkwürdigen Zustand, in dem wir, etwa wie im Sommernachtstraum bei der Vorstellung des guten athenischen Handwerker, auf eine Kunst der Darstellung verzichtend mit dem biedern guten Willen uns begnügen und den großen Inhalt des Werks selbst auf uns wirken lassen.

Devrient spielte ganz vorzüglich, so daß ich| mir nicht denken könnte, wie man den Mephisto besser geben sollte. In wunderbarer Weise war er neben dem Schalk und Teufel doch der noble Cavalier; aGöthe selbst hat bezweifelt, ob dies je einem Schauspieler gelingen könnte. Besonders wirkt der zweite Theil ganz überraschend gut, Vieles wird durchsichtig, was bis dahin unklar, selbst die unverständliche Walpurgisnacht bekommt ihren guten Sinn; die erste Scene am Kaiserhof, im Text fast ganz unklar, wird bei der Aufführung zu einer der besten. Ich wüßte nichts, was auf mich auf der Bühne einen solchen Eindruck gemacht hätte, wie die Lynkeusscene.

In einer Pause traf ich Vaters alten Freund Ägidi, mit dem ich beide Abende als sein Gast sehr angenehm verbrachte; am ersten waren mehrere Abgeordnete (Rickert, Weber, Sleevogt) mit von der Gesellschaft;| am zweiten gleichfalls. ‒ Am Sonntag Morgen besuchte ich die Fürstengruft: Da muß man doch wirklich zweifeln, ob die Menschheit mit den Jahrzehnten an geistiger Freiheit gewinnt. Carl August konnte es durchsetzen, daß Göthe und Schiller mit den Fürsten in Einer Gruft ruhten; aber Maria Paulowna durfte als griechisch katholisch nicht neben ihrem protestantischen Gemahl ruhen, eine besondere griechische Capelle mußte über ihrem Sarg erbaut werden; damit sie aber doch wieder bnicht zu isolirt von ihrem Gemahl stände, hat man die Mauern durchgebrochen, so daß nun unten die griechische Capelle und die Fürstengruft Einen Raum bilden!

Nun, lieber Onkel, habe vielen, vielen Dank für die genußreichen Tage, die ich Dir verdanke, und grüße die Deinen Alle herzlich von Deinem

treuen Neffen

Heinrich.

Die Professoren gefallen mir bis jetzt recht gut. Besuche habe ich noch nicht gemacht.c

a gestr. von; b gestr. mit dem c Nachsatz vertikal am Außensteg von S. 4 nachgetragen

 

Letter metadata

Recipient
Dating
01.05.1880
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 35628
ID
35628