Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, [Berlin], 9. November [1859], mit Nachschrift Charlotte Haeckels
9 November
Mein lieber Ernst!
Aus Deinem letzten Briefe haben wir ersehen, wie Du wohnst und wie Du Deine Zeit eingetheilt hast. Die Wohnung ist, wenn auch etwas hoch, so übel nicht, ich hätte sie mir kleiner gedacht und die schöne Aussicht ist gut mitzurechnen. Auch freut es mich, daß Du nunmehr in voller Arbeit bist und so reichliches Material gefunden hast, auch daß Du durch Deinen Umgang nun endlich französisch sprechen lernst, was unter jetzigen Verhältnißen auf Reisen gar nicht zu entbehren ist. ‒ Du wünschest zu wißen: wie die deutschen Angelegenheiten stehn? Der a deutsche Nationalgeist ist unläugbar sehr vorgeschritten im Volk, die Regierungen sind noch immer so elend als sie je gewesen sind und es wird nicht eher beßer werden, als bis sie vom Volk in ein anderes Gleis gedrängt werden. Dazu gehört Noth von außen, und ehe diese nicht kommt, wird nichts wesentliches geschehen. Deutschland muß erst in Noth sein und Preußen sich dann rühren und kräftig hervortreten, dann wird ihm ein großer Theil von Deutschland zufallen und mit ihm gehen. Für den Augenblik ist diese Noth noch nicht vorhanden. Preußen darf sich nie Oesterreich unterordnen und muß seinen eignen, deutschen Weg gehen, welches nicht der Oesterreichische ist, da Oesterreich ganz andre Intereßen hat. Morgen wird in Deutschland das 100jährige Geburtstagsfest Schillers mit großem allgemeinen Enthusiasmus gefeiert werden. Auch diese Feier wird zeigen, daß das Nationalgefühl wieder erwacht ist. Erwarte im Ganzen nicht zu Viel von der Zukunft. Die Deutschen sind seit 2000 Jahren in Stämme getheilt und werden dieses Stämmebewußtsein nicht fahren laßen. Aber sie werden wohl nachher noch müßen werden, nachdem sie erfahren haben, was das heißt: vom Auslande geknechtet zu werden. Es wird sich im Verlauf der Zeiten wahrscheinlich ein norddeutscher Bundesstaat bilden, dem sich nach Bedürfniß auch süddeutsche Staaten mehr oder weniger anschließen werden. Die Hauptsache bleibt immer: daß das Volk auf größere Einigung drängt und die Regierungen zu vernünftigen Maasregeln nöthigt. – Mit Mutter geht es erträglich, sie hält sich möglichst ruhig und verträgt auch nicht viel Unruhe. Die Ruhe soll als Medicin dienen, ich gehe fast täglich etwas mit ihr in den Mittagsstunden b spatzieren. Ich selbst bin bei dem Uebergange zum Winter nicht recht wohl gewesen und fühle doch überhaupt, daß ich alt geworden bin. Die Kräfte haben abgenommen, indeß kann ich noch umher schlendern. Ich höre auch jetzt Nachmittag um 5 Uhr im Collegium bei Droysen über die französische Revolution. – Martens wird nun wohl in Kurzem abreisen, er geht nach London, von da aufs Schiff, um den Weg um das Cap der guten Hoffnung mitzumachen. Ich hatte ihn vor einigen Tagen mit in der geographischen als Gast. Er geht als Zoologe mit nach Japan. ||
Daß Du diesen Sommer über viel gebadet hast, ist recht schön. Es ist aber gar nicht nöthig, daß Du den ganzen Winter hindurch badest. Ich sehe es nicht als eine Verweichlichung der Italiäner an, daß sie im Winter nicht baden, sondern halte dieses für einen richtigen Instinkt, den ihnen die Natur eingiebt und der mit ihrem Klima und Lebensart zusammenhängt. Wenn Du als Nordländer jetzt dort lebst, so halte ich es auch für ganz angemeßen, daß Du Dich der dortigen Sitte fügst und nicht abweichst. Die Abschweifung könnte sich rächen. Ich bitte Dich also, das Baden in diesem Winter zu unterlaßen, was der Mutter Kummer macht und auch mir nicht unbedenklich erscheint. Uebermuth könnte sehr leicht den Fall zur Folge haben. Folge also den Wünschen Deiner Eltern. Ich habe immer auf die Geldnote von Kauffmann über die letzte Entnahme der 600 Francs gewartet. Sie ist noch nicht hier und ich habe bereits das Geld da liegen und wünsche es loszuwerden, um nicht Zinsen zu bezahlen. Frage also doch beim Banquier an, ob er die Note an Kauffmann noch nicht abgeschikt hat? Ferner meide doch nicht die deutsche Gesellschaft und gehe Abends zuweilen aus. Wir haben jetzt sehr naßes und panschiges, dabei aber mildes Wetter. Zum 22sten erwarten wir die Freyenwalder, Mimi mit den Kindern wird bis nachc Weihnachten hier bleiben. In diesen Tagen ist von Nichts als vom Schillerfest die Rede. – Ich selbst bringe die Abende von 8 Uhr an nur bei der Mutter zu, die ich nicht allein laße. Dann lesen wir noch etwas zusammen. Nun ist auch Anna bei uns, was uns sehr erfreut. Sonst wüßte ich Dir heute nichts besonderes zu schreiben. Dein Alter Freund Richthofen hat uns kürzlich besucht, er scheint von dem Oesterreichischen Leben wenig erbaut zu sein, es ist zu wenig Bildung dort. Er könnte jetzt als Geolog mit nach Japan gehen, wird es aber schwerlich annehmen, da die Überseezeit zu lang und die Ausbeute für den Geologen zu gering ist. Auch für Dich, meinte Lachmann, wäre die Reise nach Japan nicht paßend, es wäre für so lange Zeit zu wenig Gewinn, u. d bei Martens ist das etwas andres, denn dieser ist schon bei der Universität angestellt und wird wohl nach seiner Rükkunft mit Vortheil weitergeleitet werden. Daß Siegfried Reimers die hübsche Elisabeth Jonas heirathet, habe ich Dir bereits geschrieben.
[Nachschrift von Charlotte Haeckel]
Meinem lieben Herzens Ernst, noch den herzlichsten Gruß von Deiner alten Mutter, der Du ganz besonders fehlen wirst, wenn die Freienwalder hier sind.
a gestr.: teu; b gestr.: etwas; c gestr.: zu; eingef.: nach; d unleserlich gestr.