Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Potsdam, 4. März 1890
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Potsdam 4 Maerz | 1890.
Lieber Bruder!
Das trifft sich ja gut; immer habe ich es aufschieben müssen, ordentlich an Dich zu schreiben, weil [ich] zu viel [zu] thun hatte mit gerichtlichen Arbeiten und – Wahlen! – Da kommt, nachdem ich so eben durch Abgabe eines schwierigen Urtheils Luft erhalten, Agnes’ Brief von gestern, der mir Deine jetzige Adresse schreibt. Eine Postkarte habe ich an Dich vor ca. 8 Tagen nach Oran poste restante gesandt, die Du nun wohl erst später erhältst. Darum plaudre ich Dir vor, auch, was vielleicht dort drin steht.
Es geht uns im Ganzen gut. Die Hahn’schen Kinder sind seit 3 Wochen bei uns, da Frl. Defert Mitte Februar ihre neue Stellung in Quedlinburg antreten mußte. Sie machen beide uns viel Freude und bringen Leben ins Haus. Fräulein Kniebe hat sich allmählich eingewöhnt (in so mancher Beziehung war’s nicht leicht, neben Marie anzufangen) u. bleibt nach der neusten || Abrede jedenfalls für das Sommerhalbjahr. Sie ist etwas nervös, aber ganz vernünftig, u. mir in ihrem Wesen angenehm, wird aber doch wohl im Mittsommer auf einige Wochen zu ihrer Stärkung in die Seeluft müssen. Pepo werde ich dann wohl mitschicken; der sieht in Folge der vielen Sitzerei (in Tertia hat er wohl mehr zu arbeiten, als in den früheren Klassen) wie ein Käse aus. Ernst ist noch hier im Hause und wartet auf das Ende der Frostzeit; eher bekommt er in Berlin in der in Aussicht genommenen Stelle keine Beschäftigung.
Und mit dem Wetter ist es hier noch ganz arg, -10 – -14° in der Nacht haben wir wiederholt in den letzten 8 Tagen gehabt. Dabei Mittags warme Sonne, die alles auf thaut, was auf den Wegen liegt. Aber trotzdem ist Julius heute von || Berlin mit Schlittschuhen herüber gefahren, um auf dem Heiligen See zu laufen. Er bleibt noch 3 Monate in Berlin beim Anwalt (Lisco), um noch ferner den Stotterunterricht zu genießen. Etwas besser geht es. Heinz, sowie Deine 3 Damen u., wenn Walter da ist, ihn hoffe ich zu Marien’s Hochzeit hier zu haben; ich denke es werden noch alle Hindernisse in Jena überwunden werden.
5t früh.
Gestern bin ich richtig noch mit Julius zusammen auf dem Eise gewesen a wo gut Bahn gefegt war, u. bei angenehmer Temperatur zwischen 4 u. 5 Uhr gelaufen. Abends aber, als wir zu Ritter’s in Gesellschaft gingen, war die || Luft bei ca. -5° wieder recht scharf u. die Nacht kalt, und dabei meist Westwind! Die Januarkälte, die ausgeblieben war kommt noch! – Sei froh daß du dort warm sitzest! –
Na überhaupt, Du hast nichts versäumt, wenn Du grad in der letzten Woche von Hause weg warst; die Zustände sind in politischer Hinsicht recht unerquicklich. Durch verschiedene zusammengreifende Ursachen ist der Bann der sozialdemokratischen Ideen so stark durch unser Vaterland gezogen, daß eine Menge sonst ganz vernünftiger Leute aus dem Arbeiterstande davon fortgerissen ist. Auch bei uns in der Stadt sind die dir. S. C. Stimmen von 600-Tausend 1887 auf 1500. angewachsen u. in dem ganzen Wahlkreise von 1422. auf 4977 Stimmen. Ueberhaupt ist viel an der Landbe-||
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völkerung herum gearbeitet von den S. C., auch in anderen Kreisen. Nun man hat ja schon andre schwere Zeiten erlebt; man soll deshalb den Muth nicht sinken lassen und doch das Seinige thun.
Julius war gestern hier, um seine Bücher zur dauernden Uebersiedlung nach Berlin zusammenzupacken. Er denkt die 3 Monate beim Rechtsanwalt in Walter Lisco’s Bureau abzumachen und dabei täglich noch die Unterrichtsstunden beim Stotterlehrer wahrzunehmen. Es hat ihm bisher für den Verkehr nach Außen fastb nichts geholfen; er ist nur hypochondrischer geworden. Dagegen spricht er in der Anstalt, wenn auch langsam, doch ohne || jeden Anstoß. Ich habe neulich, unbemerkt von ihm, in einer Nebenstube einen freien ¼ stündigen Vortrag über ein kunstgeschichtliches Thema mit angehört u. bin erstaunt, wie gut das ging. Hoffentlich stärken sich seine Nerven, wenn er im Sommer eine gute Luftkur in den Bergen oder an der See gebraucht. Auf die Versammlung aller Kinder zu Marie’s Hochzeit freue ich mich recht; wollen wir hoffen nur hoffen, daß keinem was dazwischen kommt. Tante Bertha ist recht munter; sie ist fast täglich bei Quincke, der ja ganz hilflos ist, gefüttert werden muß, aber doch geistig noch merkwürdig frisch sich hält, wenigstens bei || Tage; Nachts fantasirt er viel. Gebe ihm der Himmel bald ein gnädiges Ende! –
Zur Hochzeit laden wir uns Verwandte u. einige ganz nahe Freunde des Brautpaares ein. Und doch werden es ca. 30 Personen. Polterabend ist nicht. Für Richard ist die Zeit bis dahin recht ungemüthlich; er hält mit der Köchin Haus, ist 2 mal die Woche hier, um mit Marie u. den Kindern zusammen zu sein.
Alles grüßt Dich herzlich. Von Meisdorf habe ich keine neuren Nachrichten. Gebessert hat sich’s schwerlich. Ade Dein treuer
Bruder.
c Ich lege eine Lebensskizze von Stichling und die National Zeitung bei. ||
d Die Kinder werden sich als Dein Hochzeitsgeschenk einen Teppich aussuchen.
a gestr.: und; b eingef.: fast; c weiter am Rand v. S. 7: Ich lege eine…National Zeitung bei.; mit Bleistift ergänzt: Die Kinder werden…einen Teppich aussuchen.