Ernst Haeckel an Richard Hertwig, Jena, 30. Dezember 1914
Jena 30.12.14.
Lieber Freund!
Den Schluß dieses verhängnisvollen Weltkriegs-Jahres will ich nicht abwarten, ohne Ihnen einen herzlichen, längst beabsichtigten Gruß zu senden, und den Ausdruck unseres aufrichtigsten Mitleides an den schweren Sorgen, in welche Sie und Ihre liebe Familie durch die Verwundung Ihres in französische Gefangenschaft gerathenen Sohnes versetzt worden sind. Hoffentlich ist derselbe inzwischen ganz wiederhergestellt. Auch ich und meine Frau sind durch die entsetzlichen Ereignisse des unabsehbaren Weltkrieges vielfach in Mitleidenschaft gezogen. Von unsern Neffen und Großneffen stehen 10 im Felde, in Ost und West; 2 sind bereits gefallen, 2 schwer verwundet. Gestern sind hier wieder 1000 Verwundete eingetroffen; die Lazarette haben nicht genug Raum. || Durch viele andere traurige Erlebnisse dieses Unglücksjahres sind wir beide alten Leute (80 und 72) in einen Zustand tiefer Depression und bitterer Resignation versetzt; auch unsere Gesundheit hat sehr gelitten, und wir können unter den barbarischen Verhältnissen, welche die gegenseitige Zerfleischung der Kulturvölker täglich mehr steigert, keine Hoffnung mehr auf einen glücklichen Ausgang des gigantischen Völkerringens festhalten!
Der Tod unserer drei tüchtigsten zoologischen Collegen: Chun, Weismann, Lang, wird auch Sie ebenso wie mich, in vielfacher Beziehung beschäftigt haben.
– Von den hiesigen Collegen sehe ich nur noch Maurer und Stahl bisweilen; von Plate und dem Zoologischen Institute habe ich seit 3 Jahren Nichts mehr gesehen und gehört; ich lebe ganz zurückgezogen in meinem stillen Hause, nur mit Lektüre und Korrespondenz beschäftigt. –
Mit besten Grüssen und Glückwünschen für 1915 treulichst Ihr alter
Ernst Haeckel.