Ernst Haeckel an Paul von Rottenburg, Liebenstein, 2. April 1903
ZOOLOGISCHES INSTITUT
DER UNIVERSITÄT JENA.
Liebenstein | Villa Feodora | 2. April 1903.
Liebster Freund!
Verzeihe, daß ich Dir nicht längst auf Deine lieben Briefe und Kartengrüße geantwortet habe. Ich war aber die letzten beiden Monate überaus mit dringenden Arbeiten beschäftigt. Die neue (V.) Auflage der „Anthropogenie“, jetzt nahezu fertig gedruckt, war eine schwere Aufgabe (120 Correctur Bogen – 2 x 60! – in 4 Monaten, d.h. täglich einen Druckbogen!). Dazu eine Masse Correspondenz über die „Welträthsel“ etc.; die Volksausgabe derselben (1 Mk!) hat sehr starken Erfolg; in 4 Monaten sind 40.000 Exemplare abgesetzt worden. ||
Vorgestern habe ich meine Vorlesungen geschlossen und gestern bin ich auf ein paar Tage hierher nach Liebenstein gereist, auf Einladung des Erbgroßherzogs von Meiningen (Bernhard) und seiner Frau (der Schwester des Kaisers, Charlotte), Beide sehr interessirt für moderne Naturerkenntniß und Entwickelungslehre.
Morgen gehe ich nach Altenstein, zum alten Herzog von Meiningen (Georg) der trotz seiner 77 Jahre noch sehr frisch ist. Sonst werde ich den größten Theil der Ferien (August und September) in Jena bleiben, da ich Ende September mit meiner Frau auf ½ Jahr nach Italien gehen will (Anfangs Riviera, später Sicilien). || Ich will meinen 70 Geburtstag (16.2.04) incognito in aller Stille verleben, frei von allen „Feiern“ etc. Auch möchte ich ½ Jahr Ruhe zur Vollendung einer größeren Arbeit haben. Daher habe ich für den ganzen Winter Urlaub genommen. Der Aufenthalt an Mittelmeer wird auch für die Gesundheit von „Schwester Röschen“ sehr vortheilhaft sein; sie war übrigens diesen Sommer besser, als seit langer Zeit; zum Theil weil sie von der täglichen Sorge und Qual um unsere arme Tochter Emma befreit war. Deren Nervenkrankheit erscheint ziemlich trostlos; allein sie befindet sich in dem Sanatorium Tannenfeld bei Gera (wo sie seit April ist) relativ wohl, besser als zu Hause. ||
Mein Pfingst-Ausflug nach Wien (4 Tage) und auf den Semmering (4 Tage) hatte den gewünschten Erfolg. Ich erholte mich im Natur- und Kunst-Genuß von der gewaltigen Ermüdung, welche die anhaltende Arbeit im Winter und in den Oster-Ferien mir zugezogen hatte. Es freut mich, daß Du von dem gleichzeitigen Besuch des Chemiker Congresses in Berlin befriedigt warst.
Solltest Du im August oder September noch einen „Continental Trip“ machen, so würde es uns natürlich sehr freuen, wenn Du uns ein paar Tage schenken könntest!
Mit herzlichsten Grüßen
von Haus zu Haus
Dein treuer alter
E. Haeckel.