Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 12. – 15. Januar 1916
PROFESSOR DR. RICHARD HERTWIG
MÜNCHEN, DEN 12. Januar 1916.
SCHACKSTR. 2/III
Hochverehrter lieber Freund und Lehrer!
Zunächst meine besten Glückwünsche zum neuen Jahr! Hoffen wir daß dasselbe uns einen ehrenvollen und dauernden Frieden bringen wird, einen Frieden, der uns auch für die Zukunft gegen den russischen Coloss Sicherheit bringt und Englands Seetyrannei endgültig beseitigt. Trotz aller errungenen Vortheile wird es noch ein schwieriges Stück Arbeit kosten, bis dieses Ziel erreicht ist. Aber ich habe die feste Zuversicht, daß es doch || schließlich gelingen wird.
An zweiter Stelle möchte ich Ihnen für die Zusendung Ihrer neuesten Veröffentlichung herzlichst danken. Ich bewundere Ihre ausserordentliche Arbeitsenergie und die Spannkraft Ihres Geistes. Immerhin habe ich meine Zweifel, ob die Schrift auf weitere Volkskreise Einfluß gewinnen wird. In den meisten Menschen steckt ein mächtiges mystisches Bedürfniß; sie haben zur Zufriedenheit ihres Gemüthes ein übernatürliches Etwas nöthig. Zeiten wie die in denen wir leben, welche das Gemüth in starker Weise bewegen, leisten dieser mystischen Ader Vorschub. Ich glaube daher, daß die nächste Zeit uns ein mächtiges Anwachsen || des Kirchenglaubens bringen wird, mehr noch des katholischen als des protestantischen.
Von unserem Otto haben wir gute Nachrichten, auch ein reiches Weihnachtspacket, in demselben schöne Aquarelle der Aussichten von Fort Barraux, ferner Silhouetten: Allegorien aufa Krieg und Frieden, eine Art Selbstportrait wie er gelehnt an einenb Bau in die Landschaft hinaus schaut, und dergleichen mehr. Eine eben so große Freude wie die Geschenke selbst, war der begleitende Brief in welchem er in feinsinnigster Weise sichc darüber äussert, wie er die Gaben an die einzelnen Familienmitglieder vertheilt haben d will. Die harte Prüfung, welche ihm die Gefangenschaft auferlegt, hat auch ihre || guten Seiten. Die Gefangenschaft giebt ihm Zeit und Veranlassung, an seiner inneren Durch- und Fortbildung zu arbeiten.
d. 15. Januar
Ich war beim Briefschreiben unterbrochen worden und komme erst heute dazu, das Begonnene zu beenden. Die letzten Tage haben mir in lebhafte Erinnerung gebracht, wie wir zu dritt vor 45 Jahren von Cattaroe über Nieglesch nach Cettinge ritten. Wie hat sich dort Alles geändert? Wie hat die Woge des Glücks den „Indianer“häuptling Nikita emporgetragen zur Königswürde, um ihn jetzt neuerdings zu stürzen und ihm die Stellung anzuweisen, die ihm gebührt. Das waren auch für uns schöne Zeiten, als wir anf den Küsten der Adria gemeinsam Zoologie trieben.
Viele herzliche Grüße sendet Ihnen in alter Treue und Dankbarkeit
Ihr R. Hertwig
a eingef.: auf; b korr. aus: einem; c eingef.: sich; d gestr.: wünschen; e korr. aus: Cattarro; f korr. aus: in