Alexander Tille an Ernst Haeckel, Glasgow, 6. Januar 1895
11 STRATHMORE GARDENS,
HILLHEAD,
GLASGOW,
6.1.95.
Hochverehrter Herr Professor!
Mein Neujahrsgruß aus Schottland kommt ein wenig verspätet, ista aber darum nicht weniger herzlich. Ich wollte die Gelegenheit benutzen, um Ihnen zwei Aufsätze zu senden, die Sie vielleicht interessieren, zwei Anwendungen der Entwicklungslehre auf die Soziologie, beides im Wesentlichen geschichtliche Studien. Die in ihnen vertretenen theoretischen Anschauungen stehen ausführlicher bereits in meinem Buche Volksdienst, || aber den Zusammenhang, aus dem sie mir erwuchsen, konnte ich dort, wo wesentlich ein sozialethisches Reformbuch geboten werden sollte, und keine Vorführung geschichtlicher Zusammenhänge, nicht mit zur Darstellung bringen. Die beiden Aufsätze stehen im „Zwanzigsten Jahrhundert“ und in „Nord und Süd“, und ich hoffe, wenn ich Zeit finde, was freilich manchmal sehr schwer ist, noch in jeder größeren deutschen Monatsschrift ein Kapitel aus dem Kreise dieser Fragen zu behandeln. Es kostet ziemlich viel Arbeit, weil man dadurch gezwungen ist, längst gesagte Sachen zu wiederholen, aber es ist der sicherste Weg, die Teilnahme des größeren Publikums zu gewinnen. Und gerade in Deutschland versäumen die führenden Geister diese Pflicht gegen ihr Volk, und so müssen andere an ihre Stelle treten. ||
Vielleicht haben Sie im Herbst einen oder den anderen von den vier Aufsätzen gesehen, die ich in der Berliner Zukunft über Entwicklungsethiker veröffentlicht habe. Das waren, vielleicht etwas überstark gekürzte, Ausschnitte aus einem Buche über den Einfluß der Entwicklungslehre auf die wissenschaftliche Ethik der letzten dreißig Jahre, von dem ich eben jetzt die Korrekturen lese. Es heißt „Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik“ und wird wohl Ende Februar herauskommen. Es ist ein wissenschaftlich-ethisches Buch, das schwerlich soviel Absatz finden wird wie der Volksdienst, der sich an viel weitere Leserkreise wendete; es erscheint natürlich unter meinem Namen. Im fünften Kapitel finden auch Ihre ethischen Anschauungen, soweit sie in Ihren Werken vorliegen, eine eingehende Darstellung. Hoffentlich habe ich Sie überall richtig verstanden. Bruno || Wille hat Ihre Ansichten in seinem Aufsatz über Sozialaristokratie in der „Freien Bühne“ 1893 meiner Meinung nach falsch verstanden. Ich bin sehr gespannt auf Ihr Urteil über das Buch. Es versucht zum ersten Male den Faden aufzuzeigen, der durch die zeitgenössische Entwicklung der naturwissenschaftlichen Ethik geht und zu einer auf die Entwicklungslehre gegründeten Sittlichkeit führen muß. Ob mir das geglückt ist, ist eine andere Frage. In acht Wochen, denke ich, wird das Buch in Ihren Händen sein.
Einstweilen, nehmen Sie, bitte, meinen herzlichsten Neujahrswunsch entgegen.
Mit aufrichtiger Verehrung
Ihr
ergebener
Alexander Tille.
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