Wundt, Wilhelm

Wilhelm Wundt an Ernst Haeckel, Leipzig, 23. September 1914

Leipzig, den 23. September 1914.

Hochverehrter Herr Kollege!

Empfangen Sie meinen herzlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilen und für die gütige Uebersendung der 2. Auflage Ihrer „Gott-Natur“. Daß Sie meiner Auffassung der gegenwärtigen Weltlage vollkommen zustimmen freut mich aufrichtig. Uebrigens konnte ich das ja auch aus Ihren Kundgebungen hinsichtlich der englischen Ehrungen und Auszeichnungen, in der Sie uns anderen als „Rufer im Streit“ vorangegangen waren, schließen! Sie erinnern mich an meine Rezension Ihrer „Generellen Morphologie“ aus dem Jahre 1866. || Ich gedenke dabei mit Dankbarkeit der reichen Belehrung, die ich aus diesem großen Werke geschöpft habe, durch die mir dereinst wohl die ganze Bedeutung der Darwin’schen Entwicklungslehre klar geworden ist, wie nicht minder deren große Wichtigkeit für die gesamte systematische Naturwissenschaft.

Daß so manche deutsche Gelehrte jetzt schon anfangen, namentlich England gegenüber die Friedensflöte zu pfeifen, halte ich für wenig angebracht. Ebenso geht man, wie ich meine, in dem Werben um die Gunst der Neutralen bisweilen über die Grenze, die unserer Würde angebracht ist. Gewiß ist es richtig, den Lügen entgegenzutreten, die auch in den neutralen Ländern || über den Krieg und über unsere Kriegsführung verbreitet sind. Weiterzugehen ist nach meiner Ueberzeugung ohnehin völlig unangebracht. In Amerika z. B. werden die Angelsachsen zu England, die Deutschen zu uns halten, – und jene werden doch nicht anders als durch unseren Sieg bekehrt werden! Ich glaube sicher zu sein, daß auch Sie diese Ueberzeugung teilen.

In aufrichtiger Verehrung

Ihr

ganz ergebener

W. Wundt.

 

Letter metadata

Recipient
Dating
23.09.1914
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
EHA Jena, A 17090
ID
17090