Richard Semon an Ernst Haeckel, München, 5. Mai 1907
MARTIUS-STRASSE 7
MÜNCHEN 23
5/VII, 07
Eure Excellenz.
[Es fällt mir eben ein, dass dies der erste Brief ist, in dem ich Sie so anrede!]a
Hochverehrter Herr Professor.
Schon lange hatte ich vor, Ihnen einmal wieder zu schreiben und Ihnen unsern glücklichen vollzogenen Einzug in unser neues Heim anzuzeigen. Da ich aber sonst gar nichts Interessantes hatte, was ich Ihnen hätte mitteilen können, kam es immer nicht zu dem Briefe. Heute aber fühle ich mich durch ein wunderbares Portrait von Ihnen, das seit gestern in meinem Arbeitszimmer hängt, auf das stärkste zum Schreiben angeregt. Vor einiger Zeit sagte mir meine Frau, sie hätte bei einem hiesigen Photographen ein gross-||artiges Portrait von Ihnen hängen sehen. Wir gingen zusammen hin, und auch ich war ganz überwältigt von der Naturtreue und der Schönheit der Wiedergabe. Ein Dreifarbendruck der neuen photographischen Gesellschaft! Als ich mich bei Herrn Generaldirektor Schwarz nach dem näheren b (ob verschiedene derartige Aufnahmen gemacht seien etc.) erkundigte, dedizirte er uns ein prachtvoll gerahmtes Exemplar zur Erinnerung an unsere gemeinsamen Bergfahrten in Rapallo und in der Gemeinsamkeit seiner und meiner Verehrung für Sie. Ich finde dieses Bild grossartig! Absolut naturwahr und charakteristisch, dabei auf einer ausserordentlichen technischen Höhe. So ist die Wiedergabe des Haars unübertrefflich, der Ton der Gesichtsfarbe || naturwahr und dabei höchst diskret wirkend. Selbst der kleine braune Fleck am Schläfenwinkel ist auf das getreuste nur doch nicht aufdringlich wiedergegeben. Ich hätte nicht gedacht, dass man solche Resultate mit farbiger Photographie erreichen könnte. Mir ist dies Bild viel lieber – ich sage das auf die Gefahr hin als Banause angesehen zu werden – alsc Ihr Portrait von Lenbach. Freilich hat bei diesem Lenbachs Kunst einmal ganz versagt, und was er gemalt hat, ist alles, d nur nicht Ernst Haeckel.
Wir hoffen, dass es Ihnen gut geht, dass das sich jetzt seinem Ende zuneigende Semester Sie nicht zu sehr angegriffen hat, und dass die Entwicklung des phyletischen Museums wie eine Naturnotwendigkeit, die alle || Widerstände besiegt, also als Prototyp einer natürlichen Entwicklung fortschreitet. Ich bin jetzt wieder fleissig bei der Arbeit, und hoffe, dass die nächste Fortsetzung der Mneme bis Ende des Winters fertig werden wird. Mittlerweile wird voraussichtlich auch eine 2. Auflage des den Reigen eröffnenden Buchs erscheinen.
Meine Frau grüsst Sie herzlich.
Hoffentlich führt Sie Ihr Weg während der Sommerferien wieder einmal nach München und besuchen Sie uns dann in der Martiusstrasse. Längere Reisen planen wir in diesem Jahre nicht; nur im September wollen wir auf 14 Tage nach Holland.
Mit vielen herzlichen Grüssen
stets ihr treu und dankbar ergebener
Richard Semon.
a in eckigen Klammern eingef. hinter: Excellenz. b gestr.: xxxartigen; c korr. aus: wie; d gestr.: nich