Richard Semon an Ernst Haeckel, Neapel, 15. März 1986
15/III 86 Neapel
Zoologische Station.
Sehr geehrter Herr Professor.
Auf Ihren freundlichen Brief, den Sie vor meiner Abreise nach Afrika im März vorigen Jahres an mich zu schreiben die Güte hatten, antworte ich erst jetzt und spreche Ihnen für denselben freilich etwas verspätet meinen wärmsten Dank aus.
Leider war mein Unternehmen nicht von Glück begünstigt und sind die gehofften Erfolge für diesmal ausgeblieben.
Nach 6 wöchentlicher sehr interessanter Seereise längs der Afrikanischen Westküste erreichten wir Ende Maia die Nigermündung und traten nach kurzem || Aufenthalt in Brass unsere Reise ins Innere an. Nach 14 tägiger b Fahrt stromaufwärts im kleinen von Europa mitgebrachten Dampfer erreichten wie Lokodja, wo der Benue in den Niger einmündet. Da es bei dem damaligen Wasserstande unmöglich war, mit dem Dampfer in Benue vorwärtszukommen, kehrte Flegel mit diesem an die Küste zurück, um den Rest unseres Gepäcksc, der in Brass zurückgeblieben, nachzuholen. Ich führte die Expedition in einem Riesencanoe und einem zerlegbaren Boot Benue aufwärts. Nach II tägiger Fahrt erreichten wir unter mancherlei Schwierigkeiten und sämmtlich stark vom Fieber leidend Loko am Benue.|| Dort machten wir einen längeren Halt und bereitete ich eine Expedition vor, die ich landeinwärts nach Norden (nach Sokoto) führen sollte.
Nach kurzem Aufenthalt in Loko aber wurde ich dermaassen vom Fieber ergriffen, dass meine Kräfte vollig hinschwanden, ich unfähig wurde zu gehen oder auch nur zu stehen, und kaum noch im Stande war, Nahrung zu mir zu nehmen. So fand mich Flegel, der 6 Wochen nach mir in Loko eintraf, und obwohl wenig Hoffnung war, d den Geologen unserer Expedition, Dr. Gürich, der fast ebenso heftig erkrankt war, und mich noch glücklich an das Meer zurückzubringen, war es doch || Flegels erste Sorge, für unsern Transport an die Küste zu sorgen, obgleich dadurch natürlich das Vorwärtskommen der Expedition erheblich verzögert wurde.
Beide erreichten wir glücklich die Küste und fanden zu Glück in Akassa ein Schiff, dass [!] grade im Begriff stand, nach Europa abzugehen. Nach dreiwöchentlicher Seefahrt war ich wieder im Stande etwas zu gehen. Als wir nach fünf Wochen in Liverpool ankamen, hatten sich meine Kräfte erheblich gehoben. In London hatte ich dann wieder einen 3 wöchentlichen ziemlich heftigen Rückfall des Fiebers. Im October langte ich endlich wieder || in Berlin im Hause meiner Mutter an. Seit Dezember bin ich in Neapel und habe hier einen Tisch der preussischen Regierung inne.
Natürlich war die Ausbeute meiner so beschaffenen Reise in wissenschaftlicher Beziehung eine äusserst geringe. Die erste Zeit bis zur Ankunft in Loko wurde vollkommen durch administrative und geographische Obliegenheiten in Anspruch genommen. In Loko begann ich denn zuerst intensiver zoologische und botanische Sammlungen und Beobachtungen zu machen. Vielleicht war aber grade mein häufiges Aufsuchen von stehenden Wässern || und zuweilen recht übelriechender Sümpfe, die für mich natürlich ein Hauptinteresse besassen, ein besonderer Grund für meine so ungewöhnlich heftige Erkrankung.
Ich bin natürlich weit entfernt, mich durch diesen einen Misserfolg abschrecken zu lassen und meine Reisepläne definitiv aufzugeben. Doch habe ich vor, erstens nie wieder so perniciöse Klimate aufzusuchen, wie das aequatoriale Westafrika, da ich mich doch ziemlich disponirt für Malariaerkrankung gezeigt habe, zweitens erst meine Gesundheit wieder völlig herzustellen || und drittens meine zoologischen Kenntnisse noch in manchen Beziehungen zu erweitern und vertiefen, ehe ich an neue grössere Reisen denke.
Hier arbeite ich über Entwicklungsgeschichte von Echinodermen speciell über Auricularien und Bipinuarien (Entwicklung des Muskel und Nervensystems.)
Ich habe den Wunsch, wenn sich mir etwas meinen Wünschen und meiner zoologischen Richtung entsprechendes bietet, eine zoologische oder anatomische Assistentenstelle – ich habe, wie Sie wissen, auch das medicinische Staatsexamen gemacht – anzunehmen. || Bis jetzt sind meine Bemühungen in dieser Beziehung erfolglos geblieben. Sollten Sie, sehr geehrter Herr Professor, in der Lage sein, mir in dieser Beziehung einen Rat oder eine Anweisung zu geben, so werde ich Ihnen dafür sehr dankbar sein. Hier gedenke ich je nach den Umständen bis Mai oder bis October zu bleiben.
Indem ich mich Ihnen für heute bestens empfehle, bin ich
in alter Dankbarkeit und Verehrung
Ihr sehr ergebener
Richard Semon.
a eingef.: Ende Mai; b gestr.: Reise; c korr. aus irrtüml.: Gepäck; d gestr.: mein Leben