Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 29. Dezember 1874

Heidelberg, 29. Dez 74.

Liebster Freund!

Für die recht große Freude welche Du mit dem „Häckelschen Familienbriefe” bereitetest, herzlichen Dank! Ihr habt damit unsern Weihnachtstisch zieren helfen, und ward so mitten unter uns, da wir um den Weihnachtsbaum, groß und klein, fröhlich versammelt waren. Wir haben eine recht frohe Weihnacht erlebt, da Alles wohl war, jetzt hat die große Kälte (Nachts -10°) den Kindern Schnupfen gebracht, und sie werden alle 3 in Läuterung gehalten.

Deine Verschiebung des Urlaubs war wohl recht weise, denn ich fürchte, daß wir länger als sonst des Winters Strenge zu fühlen haben werden, und da hättest Du doch eine unangenehme Reise in Aussicht a gehabt. Im März wirdʼs doch um vieles besser sein.

Auch wir leben hier ziemlich still, nachdem wir einige Gesellschaften los sind, und werden nun ganz in ruhiges Fahrwasser gelangt sein. ||

Ich werde jetzt das I. Heft meiner Jahrbücher für Morphologie drucken lassen, und habe mich noch entschloßen, mit anderer Beihilfe, einen Jahresbericht für vergleichende Anatomie (der Vertebraten) dem Unternehmen an den Wagen zu binden. Da werde ich denn auch Gelegenheit haben Herrn Semper etwas auf die Seele zu klopfen, nicht wegen seiner Angriffe gegen mich, sondern des Unsinns wegen, den dieser Wirrkopf drucken läßt. Durch prompte Zusendung dieses Unsinns glaubt der Kerl mich wohl zu ärgern!

Was sagst Du zu Mʼs Stammesgeschichte, dem großen Ludwig dargebracht! Es ist doch wahrhaft rührend! Der große Vater L. muß doch nicht gut wissen, woran er eigentlich ist, wenn solches Räucherwerk auf seinem Altare verbrannt wird! Zum Glück ist's nicht so ernsthaft, und die phylogenetischen Deductionen werden vergeblich gesucht werden. Je mehr ich's mir überlege, desto mehr finde ich's mit der Zeitschrift-Herausgabe an der Zeit, und ich hoffe, wenn alle Gleichgesinnten, Gleichstrebenden, sich vereinigen lassen, Mühe und Arbeit (deren ich bis jetzt schon sehr viel hatte) nicht vergeblich darein zu setzen. ||

Das ist gewiß vor Allem jetzt die w. Hauptsache, zu arbeiten. Sehr bald wird sich dann entschieden haben, auf welcher Seite die Förderung liegt. Eine ganz vortreffliche Arbeit ist die O. Hertwigs, von der ich nur bedaure, daß sie dem mikroskop. Archiv angehörig ist, zu dem sie paßt wie der Pontius ins Credo!

Durch Kirchhoffs Weggang ‒ beiläufig bemerkt eine hier die größte Aufregung bereitende Angelegenheit ‒ wird vielleicht Quincke hieher berufen! Ich kümmere mich in gar keiner Weise um die hiesigen Universitätsquäckeleien, und freue mich meiner Mauer! So soll's immer gehalten werden.

Zum neuen Jahre die alte Freundschaft, und herzlichste Wünsche von uns an Dich und die Deinen. Lebe wohl und behalte lieb Deinen

aufrichtigen

CG.

a gestr.: I

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
29.12.1874
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9993
ID
9993