Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Zwickau, 24. April 1919

Zwickau, 24.4.19

Hotel Deutscher Kaiser.

Lieber Freund!

Entschuldige die Bleistiftschrift, ich bin auf der Reise, und die mir zugängliche Tinte ist von verdächtiger Aehnlichkeit mit Solenhofener Kalkbrei, mit dem man Abdrücke, aber keine Schriftzüge erzeugen kann. Unsere ganze Kultur hat etwas Neigung, scheint‘s, sich wieder in geologischen Brei aufzulösen! Im Moment meiner Abreise von Schreiberhau erhielt ich grade noch Deine lieben Zeilen und die reizende Sendung, für die ich Dir herzlich danke. || Ich fahre auf Vortragsreise durch Sachsen, leider bei den unglaublichen Verkehrsschwierigkeiten mit so gebundener Route, daß ich trotz lebhaftestem Wunsch nicht bei Dir anklopfen kann, – doch wird es in der zweiten Hälfte Mai geschehen, ich freue mich sehr darauf. Wir sind den Winter still in Schreiberhau geblieben, wo alles noch relativ ruhig war, obwohl die Tschechengefahr ab und zu am Horizont wetterleuchtete. Meine Frau war leider viel von ihrem alten Gallenleiden geplagt, ist aber jetzt || wieder etwas besser. Karl kam grade zum Weihnachtsabend frisch und fidel aus dem Felde zurück (die Jugend nimmt ja alle diese Stürme mit glücklichem Leichtsinn hin) und geht jetzt als neugebackener Student nach Breslau. Kinder gehen ihre eigenen Wege: der liebe Junge hat nun mal zur Naturwissenschaft gar keine Neigung, an die sein Vater sich mit so mancher Mühe und Zickzackbahn angegliedert, – er will Nationalökonomie und Geschichte studieren. Seine Frische macht mir aber viel Freude. || Ja, in was für unbegreiflich wirre Zeiten sind wir geraten! Alles alte splittert, und das Neue hat nicht die Idealfarbe, die wir suchten. Doch davon in einem Plauderstündchen bei Dir. Was hilft‘s, – die Natur geht ihre ungeheuren Wege, dämonisch, unberechenbar. „Ihren Fluch hat sie an den Stillstand gehängt", wie Goethe sagt. Er hat‘s auch zwischen 1789 und 1806 erlebt. Und doch meine ich, so etwas, wie jetzt, wäre selbst in allen Stürmen der Weltgeschichte beispiellos. Mit allen guten Grüßen

Dein getreuer

Wilhelm Bölsche

Brief Metadaten

ID
9751
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
24.04.1919
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,1 x 17,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9751
Zitiervorlage
Bölsche, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Zwickau; 24.04.1919; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9751