Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 14. Dezember 1917
Friedrichshagen b. Berlin,
Seestr. 63
14.12.17.
NB Entschuldige das scheußliche Briefpapier, aber man bekommt kein anständiges mehr!!
Lieber Freund!
Endlich komme ich dazu, Deinen lieben Brief zu beantworten. Ich bin vom 1. Nov. bis jetzt auf allerlei Wegen durch Deutschland gezogen, habe Vorträge am Rhein und in Hamburg gehalten, Verwandte in Cöln mal wieder besucht u.s.w. Die weitaus bessere Verpflegung des „gasträischen" Menschen in Süddeutschland hat mir sehr wohlgethan nach den ziemlich strengen Berliner Fastwochen, die mir im Laufe des letzten Jahres trotz des stets besseren Schreiberhauer Intermezzo 12 Kilo wohlerworbenen Reservespecks für die Eventualitäten dieser bösen Welt abgezapft hatten. Meine Heimreise von Freiburg (wo ich reizende Stunden im Doflein´schen Hause verlebte) vollzog sich wegen eines eingeschalteten Berliner Vortrags leider so rasch (von 6 morgens bis 11 abends), daß ich nicht, wie ich eigentlich vorhatte, bei Dir anklopfen konnte, auch hat sich die Spechtstiftung über ihre Preisverteilung diesmal ohne persönliche Sitzung geeinigt; aber im Januar fahre ich (zu einigen Vorträgen auf Einladung der Heeresleitung an der Westfront) wieder über Weimar und melde mich dann zu behaglichen Plauderstunden bei Dir an. Wenn Du erlaubst, bleibe ich gern eine Nacht bei Dir, es wird um den 8. od. 10. herum sein. Nachdem ich im Frühjahr die Ostfront in Rußland besucht, denke ich jetzt auch ein Bild von dem eisernen Wall im Westen zu bekommen. Ich hätte´s nicht gedacht, daß ich bei sehr || friedlicher Veranlagung noch einmal echte Kriegsbilder in meinen Erinnerungsschatz aufnehmen sollte, – aber das Leben ist eine unberechenbare Sphinx.
Ich sende Dir anbei die Neuausgabe von „Sonnen und Sonnenstäubchen". Es ist eine richtige Notausgabe, auf miserabelm Papier mit schlechtem Druck (trotzdem theuer!), und ich kann nur broschierte Exemplare vergeben, da die paar fertigen (übrigens auch monströs scheußlichen) Noteinbände, die vor Weihnachten fertig wurden, vom Verlag selber dringend gebraucht wurden. Es handelte sich eben bloß darum, das plötzlich ganz vergriffene Werk unter allen Umständen noch für diesen Winter wieder in Umlauf zu setzen, es wird besonders an der Front begehrt. Ich habe überall leise gefeilt am Text, ohne im Ganzen zu verschieben. Das erste Kapitel (Milchstraße) hätte ich z.B. nach Arrhenius umgestalten können, doch schien‘s mir nicht nötig: schließlich steht Hypothese gegen Hypothese, und wer weiß, welche wieder in ein paar Jahren übrig ist; so mag´s einstweilen bei den älteren bleiben, die hier mal halbwegs klar wenigstens entwickelt waren. Zum „Riesenfaultier" (Kapitel 3) schien mir gar nichts neues nötig. In den Londoner Proceedings ist inzwischen noch ein neuerer Aufsatz über die besagte patagonische Wunderhöhle erschienen, || der die ganzen Funde doch für altdiluvial hält, – glauben aber kann ich‘s nicht, daß so saubere Fallstücke in einer feuchten Höhle ohne Eis so lange ausgedauert haben sollen, ich glaube aber, daß ein Teil diluvialer Tierwelt da unten wirklich noch viel länger als anderswo fortexistiert hat. Also ändern wollte ich auch da nichts. Ueber Archäopteryx (Kap. 4) ist leider überhaupt in den 15 Jahren ja nichts neues hinzugekommen. Ein winziger Rest, aber noch sehr problematisch, soll in der ostafrikanischen Ausbeute der Tendaguru-Expedition sein. Ziemlich neu durchgearbeitet und so vielleicht neu lesenswert ist "Die Anfänge der Kultur bei den Tieren". Endlich habe ich in dem Radiolarienkapitel mancherlei ergänzt. Wütend angegriffen war von Berliner Weisheit her gelegentlich darin die herbe Kritik an Ehrenberg, doch glaube ich nach wie vor, daß sie berechtigt ist. Ergänzt ist das allgemeine Tiefseebild S. 390 ff; mit manchem neueren Zug. Ganz neu geschrieben aber ist der Text ungefähr von 419 bis etwa 438. Ich habe, da Bilder nicht gegeben werden sollten, wenigstens versucht, beschreibend ein kleines Bild von dem Formenreichtum der Radiolarien (bes. S. 421 bis 430) zu entwerfen, und ich bitte Dich, diese Seiten doch neu durchzulesen, ob es Dir ungefähr so gefällt. Natürlich ist‘s nur eine halbe Arbeit im Wort vor Dingen, die der Blick in ihrer überwältigenden Totalität zeigt, aber es machte mir schließlich Spaß, es auch so mal zu versuchen. Der Faden ergab sich einfach beim || Durchblättern Deiner herrlichen Challenger-Tafeln, die ich Deiner Güte verdanke.
Schade, daß ich Dein neues Crystallbuch nicht noch erwähnen und benutzen konnte. Ich fand es hier vor und freue mich unendlich auf die Lektüre in den ruhigen Weihnachtstagen. Ich glaube schon rein nach dem Stoff, daß es eines der wichtigsten Probleme in Fluß bringen wird, die wir zur Zeit für Naturphilosophie haben. Glückauf zu Deiner unermüdlichen Arbeitskraft, die zugleich immer wieder mit Hellblick die nötigsten strategischen Punkte des großen Weltanschauungskampfs erfaßt!
Hier geht alles still so weiter. Unser Karl (dem ich Deine Karte sandte) ist noch in Osterode (in Ostpreussen, Kanonier K. Bölsche, Roonstraße 3 bei Frau Ronpert) und drillt Polacken, die 1899er sollen aber noch nicht an die Front, wie ich höre, man will Reserve für "nach dem Krieg" behalten. Ja, wann das ist?? Ich denke aber doch, mit Rußlands Zusammensturz ist der Krieg, ob so, ob so, zu unseren Gunsten entschieden. Falls nur nicht bei uns selber daheim zu viel deutsche Michelei das große Schlußergebniß verwässert! Und die Rechnung zu groß wird, die uns Pater Filucius am Ende „für treu geleistete Dienste" präsentiert!!!
Mit allen guten Weihnachtswünschen
Dein Wilhelm Bölsche