Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 6. März 1917
Friedrichshagen
b. Berlin, Seestr. 63.
6.3.17.
Lieber Freund!
Du wirst vielleicht mit einigem Kopfschütteln meine Zeilen im Berl. Tageblatt über Dein 60. Doktorjubiläum gelesen haben. Die konfuse Redaktion (heute geht die Zeitungskonfusion in‘s Ungeheuerliche) hatte die Hälfte des Aufsatzes einfach gestrichen und den Rest mit zum teil eigenen Sätzen aneinander geflickt. Dadurch ist stellenweise heller Blödsinn entstanden z.B. bei der Stelle über Infusorien. Ich hatte dort gesagt, daß man damals || noch an Urzeugung von Infusorien glaubte und Joh. Müller Urzeugung beim Bandwurm noch für möglich hielt. Daraus hat der weise Redakteur den heillosen Unsinn zusammengestoppelt. Leider ist aber bei den Sätzen über den Zufall, sowie im Schlußabschnitt auch der Gesammtsinn verschoben worden, indem die Binde- und Ergänzungssätze fehlen. Das nur zur raschen Notiz, damit Du mir nicht gar zu konfuses Zeug zutraust. Es ist wirklich ein Elend mit unsern Zeitungen im Augenblick! –
Ich komme von einer sehr interessanten Reise in‘s || Oberost-Gebiet und Polen (Lodz, Warschau, Bialystok, Bialowies,Wolkowysk) heim, die mir besonders Gelegenheit gab, in herrlichen Schlittenpartien den jetzt unter deutscher Forstverwaltung (Major Escherich) stehenden Urwald von Bialowies kennen zu lernen. Ich sah eine Wisentherde von 16 Stück in ihrem echten urtümlichen Milieu. Leider ist der Bestand der Wisente im Ganzen doch sehr beschädigt worden. Beim ersten Truppendurchzug sind von den damals knapp noch vorhandenen 220-230 Stück etwa 100 abgeschossen worden. Jetzt wird sorgsam gehegt, auch arbeitet eine besondere Commission an genauer faunistisch-floristischer Aufnahme des Waldes. Es ist nur stellenweise wildverworrener Urwald im echten Sinne, dafür aber || recht eigentlich Riesenwald mit wahrhaft ungeheuren Stämmen. In allen Details zeigt sich eine höchst interessante Eiszeitinsel. Vieles mit Gebirgscharakter trotz der glatten Ebene. Rein landschaftlich ist es das großartigste Waldbild, das ich je gesehen, ein Genuß für waldfrohe Augen ohne gleichen. Ich wohnte im (sehr geschmacklosen) Zarenschloß, wo jetzt das Offizierskasino ist, mit reizenden Menschen zusammen. Die allgemeine Stimmung dort hinter
der Front war die beste, die bereits geleistete deutsche Organisationsarbeit überall bewundernswert.
Mit herzlichsten Grüßen
Dein W. Bölsche