Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 20. Dezember 1916

Friedrichshagen,

Seestr. 63.

20.12.16.

Lieber Freund!

Anbei das kleine geographische Lesebüchlein von dem ich Dir neulich sprach – eine harmlose Nebenarbeit in schwerer Zeit, die immerhin für ein paar Stunden zu großer Vergangenheit ablenken mag. Es ist halb und halb als Lesebuch für Schulen gedacht. Mir hat‘s Spaß gemacht, und bei einigem Erfolg gedenke ich es noch in einigen ähnlichen Bänden fortzusetzen, wobei ich gern auch ein || Kapitel aus Deinen köstlichen "Indischen Reisebriefen" stibizzen würde, wenn Du den Einbruch vorher gütig verzeihst. Die "Deutsche Bibliothek" kann als ein recht rühriger Verlag empfohlen werden.

Die Monistensache habe ich mir noch recht fleißig durch den Kopf gehen lassen, komme aber auf unsere letzten Erwägungen immer wieder zurück. Ich meine 1) rein sachlich, es wäre besser, nicht ein Provisorium zu schaffen, sondern bis zum Schluß || des ungeheuren Weltdramas alles stehen und liegen zu lassen, so gut es geht, ohne einen neuen Namen mit dem doch provisorischen Posten zu verknüpfen; 2) pro domo, daß ich selber a) ein altes Nichtgeschick habe, Dinge von oben zu leiten; ich bin in dem Punkt geborener Winkel- und Nachsitzungen-Mensch mit Treppenwitz, aber keinem führenden Schlagverstand b.) im Einzelfall ein leises Unbehagen fühle, als Vorsitzender plötzlich über den Berliner Ortsleuten stehen || zu sollen, die mich notorisch nicht mögen (weil ich horrobile dictu diesen wun-derlichen Heiligen nicht genug Pazifist, sondern Imperialist, Kriegsverherrlicher und wer weiß was sonst noch sein soll!!) und also von Anfang an stets Hotohü ziehen würde, wo ich Hotoho sagte; ich wohne aber nun mal in Berlin, würde also persönlich grade mit diesen Krachnudeln immerwährend zu thun haben, die mich vermutlich so lange ärgern würden, bis ich in einem Temperamentsgewitter die Sache wieder niederlegte, was || wieder vor der Oeffentlichkeit der Sache schaden würde. Ist der Krieg vorbei, so werden ja an Stelle dieser gar nicht zum Monismus gehörigen politischen Querköpfigkeiten wieder die echten Geistes-motive auch in Berlin durchdringen, und dann läßt sich ja alles neu besprechen, – bis dahin möchte ich aber (bei herzlichstem Dank für Dein Vertrauen) doch nichts in der Sache übernehmen, was ich selber mit ganz gutem Gewissen nicht sachlich und persönlich für förderlich halten kann.

Die reizenden Stunden bei Dir stehen mir || unvergeßlich in der Erinnerung. Das Radiolarienkapitel für die Neuauflage der „Sonnen und Sonnenstäubchen" habe ich danach genau revidiert. Das Goethe-Buch, wegen dessen ich reklamierte, ist Dir wohl inzwischen zugegangen.

Inzwischen wollen (trotz des Grafen Arko) die Friedenstauben nicht fliegen und nur die Raben kommen über die Sintflut...

Mit allen herzlichsten Weihnachtswünschen

Dein getreuer

W. Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
20.12.1916
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9740
ID
9740