Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 31. Dezember 1914

Friedrichshagen b. Berlin,

Seestr. 63.

31.12.14.

Lieber Freund!

Zum Jahreswechsel sende ich Dir herzlichste Grüße. Dunkler und seltsamer hat uns alle freilich der Sylvestertag wohl noch nie angeschaut wie in diesem Rätseljahr. Was wird das werden? Auf jeden Fall aber habe ich mich seit der Dauer des Krieges immer neu über Dein tapferes „Dreinschauen“ gefreut. Ich konnte bei den verschiedensten Gelegenheiten || beobachten, wie vielen Menschen Du dort das erlösende Kennwort gesprochen hattest, - auch solchen, die in Weltanschauung differierten und die einigermaßen deprimiert zugeben mußten, daß Du doch „ein merkwürdig anständiger Mensch“ wärest! Nun, da mag ja dem Einen oder Andern doch nebenbei auch aufgehen, daß es doch ratsam sei, auch Deine übrigens Gesinnungen einmal wohlwollender nachzuprüfen. Scherz bei Seite: || Du hast mit so prächtiger Frische geschrieben, daß es eine wahre Freude sein mußte.

Da mein Sohn Karl jetzt in Heidelberg in einem Institut auf Obersekunda vorbereitet wird (unser trefflicher Hauslehrer, der junge Tschirn, mußte mit in‘s Feld), so sind wir bis kurz vor Weihnachten in Schreiberhau geblieben und wollen auch bald wieder hin. Ich habe in der Stille gearbeitet, so weit es die allgemeine Unruhe zuließ, die uns allen in den Nerven sitzt, – was hilft‘s, man muß halt || schuften. Der Bücherabsatz in diesem Winter dürfte bei kaum fünf Prozent bleiben gegen sonst! – Gestern wohnte ich in Berlin der Eröffnung des prachtvollen neuen Theaterbaus der „Neuen Freien Volksbühne" bei. Es ist das größte und schönste Theater Berlins. Diese Volksbühne wurde vor rund jetzt 25 Jahren von Wille, mir und ein paar andern mit etwas Idealismus und sonst eigentlich nichts begründet, kämpfte lange gegen alle Sorten Argwohn und || Verketzerung als anrüchiges „Arbeiterunternehmen", – jetzt baut sie mit Millionenhypotheken, die die Stadt Berlin liefert, das größte Theater Berlins und wurde im Beisein der obersten Behörden mit größtem Pomp gestern darein eingesetzt! Wie die Zeiten sich verwandelt haben! Aber groß war doch auch, daß wir Berliner noch Zeit, Geld, Lust und Arbeitskräfte für neue Theater inmitten solcher Weltstürme finden! Da steckt ein Stück Kraft, die kein || zweites Volk der Erde hat! Wie wir überhaupt uns ja zur Zeit an den etwas schwierigen Gedanken werden gewöhnen müssen, daß wir summa summarum wirklich die anständigsten Leute auf diesem seltsamen Planeten sind. Da wir unter unsern lieben Volksgenossen immerhin doch auch noch einige kennen, die nicht eben als „Ebenbild Gottes" gelten können, so muß der Gedanke nicht zu übermütig machen, – na, || aber wahr scheint er wirklich nachgerade zu sein.

Mit allen herzlichen und mutigen Grüßen (auch an Deine liebe Frau)

Dein getreuer

Wilhelm Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
31.12.1914
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9730
ID
9730