Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 5. Mai 1913
Friedrichshagen
b. Berlin,
Seestr.63.
5.5.13.
Lieber Freund!
Vielen Dank für Deine interessante Sexualstudie. Ich freue mich auch über den Ort, wo sie erschienen ist. Für mich ist das „Jahrbuch" Magnus Hirschfeld‘s seit langer Zeit eine Quelle reicher Wissensanregungen, und ich habe stets mit großem Bedauern gesehen, wie die hochverdienstliche Arbeit dieses Mannes in der Oeffentlichkeit auf‘s || gröblichste verkannt und verunglimpft wurde. Vielfach haben sich sogar die Homosexuellen selber (unter denen sich ja stets ein starker Prozentsatz von Halbmännchen mit den wirklichen Manieren hysterisch-unlogischer Weibchen befindet) an dieser ungerechten Hetze beteiligt.
In etwa 2-3 Wochen erhältst Du einen neuen Band gesammelter Essays von mir, das Erhaltenswerte aus meiner Zeitschriften-Arbeit in den letzten drei Jahren, || durchweg aber für den Buchdruck gründlich umgearbeitet und erweitert. Ich habe daran meist in der Eisenbahn während meiner langen Vortragsfahrten gearbeitet, – ich war in Wien, Graz, Prag, Halle, Carlsruhe, Freiburg, Basel, Nürnberg, Danzig, Königsberg, Insterburg, Posen, – überall um den Leuten mit viel Erfolg die wunderbaren diluvialen Höhlenmalereien von Altamira, Combarelles etc. in prächtigen Lichtbildern vorzuführen und zu erläuten. Die Tage in Graz waren (bei herrlichem Frühlingswetter) besonders || genußreich. Ich fuhr zum ersten Mal dabei über den Dir so vertrauten schönen Semmering.
Hier ist alles wohl. Freitag feiern wir in frohem Bekanntenkreise hier im Garten den 50. Geburtstag meiner Frau, die sich seit der furchtbaren Gallensteinkrisis des vorigen Frühjahrs der allerbesten Gesundheit erfreut. Hoffentlich geht es inzwischen auch Deiner lieben Frau wieder besser. In diesem (wie der alte Schopenhauer sagt: „durchweg zweideutigen") Leben muß man immer schon zufrieden sein, wenn die Jahre zwischen Sonne und Wolken wechseln.
Mit den besten Pfingstgrüßen
Dein
W. Bölsche