Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 12. Dezember 1907

Friedrichshagen b. Berlin,

Seestraße 63.

12.XII.07.

Lieber Freund!

Herzlichen Dank für das „Menschenproblem", das ich mit großer Freude und größter Bewunderung für Deine unveränderte Schaffenskraft gelesen habe. Du erhältst anbei auch mein neues Scherflein zur Volksaufklärung, den ersten Teil meiner seit Jahren vorbereiteten Volksnaturgeschichte auf entwickelungsgeschichtlicher Grundlage. Der Band kostet ungebunden nur 2 M 50, ist also so billig, wie nur denkbar. Ich hoffe, daß er ordentlich in die breite Masse kommt. Die nächsten Teile sollen rasch folgen, zunächst im zweiten der Rest der Säugetiere. Das Buch ist zugleich ausgesprochen als Hülfsbuch für die Besucher unserer Zool. Gärten, Aquarien und Museen gedacht. Stofflich könnte es sehr gut auch in Gymnasialbibliotheken etc. mitgehen und wirken, aber der fromme Hauch von oben der bei uns andauert, wird da wohl noch hemmen. Ich habe eben hier in Berlin in der Singakademie wieder einmal vier Vorträge über die Abstammung des Menschen gehalten, || die viele Hörer und viel Erfolg hatten. Im Uebrigen hat mich die sehr anstrengende Arbeit an dem „Tierbuch" in Verbindung mit andern Arbeiten diesen ganzen Sommer völlig zum Einsiedler gemacht, so daß ich mich an nichts auswärts beteiligen konnte, z.B. leider auch den Einladungen zu den Verhandlungen des Monistenbundes nicht folgen konnte. Später im Herbst mußte ich dann noch eine unfreiwillige Badekur mitmachen, d. h. nicht für mich, sondern für meine Frau, die einen heftigen Ischias-Anfall bekam und schleunigst mit Wiesbadener Wasser dagegen ankämpfen mußte. Ich habe die Zeit benutzt, um von Wiesbaden aus (bei dem herrlichen Spätherbstwetter!) einmal wieder den schönen Taunus nach allen Richtungen zu durchstreifen. Ich bin dann noch durch allerlei Familiensachen eine Weile in Cöln festgehalten worden, so daß wir mit Kind und Kegel erst Ende November wieder in Friedrichshagen eingetroffen sind. Hier habe ich mir jetzt einen alten Lebenswunsch realisieren können, nämlich mir auch hier || ein eigenes Heim zu erwerben, eine zufällig preiswert zu habende reizende kleine Villa unmittelbar am See, mit großem Blick über die ganze Wasserfläche. Wir sind bereits in dem Hause, und meine Frau (die Dich herzlich grüßen läßt) und ich hoffen bestimmt, mit Dir noch einmal auf unserem großen See-Balkon hübsche Stunden zu verplaudern. Die Kinder gedeihen prächtig und wachsen sich hoffentlich zu freien und frischen Geistern aus. – Ich habe bei meinen Vorträgen wieder so recht gesehen, wie groß die Anteilnahme unserer gebildeteten Kreise an den großen geistigen Fortschrittsfragen ist. Um so bedauerlicher erscheint mir aber immer wieder, wie wenig von unsern Fachnaturforschern für diese Dinge geschieht. Unsere Universitäten sind mit wenigen Ausnahmen doch verzweifelte Versteinerungsanstalten! Der Kepler-Bund ist auch wieder eine hübsche Probe! Die meisten unserer Tagesblätter verurteilen ihn, stehen also hoch über so und so viel offiziellen Fachvertretern, || die sich einfangen lassen. Bei meiner Stellung außerhalb der „offiziellen" Fachvertretung habe ich mir immer zur Maxime gemacht, nicht rigoros zu urteilen über die Dinge innerhalb, aber ich muß doch nach allem, was ich so mit den Jahren beobachte, sagen, daß dort viel verfehlt wird und daß die Misere unserer naturwissenschaftlichen Allgemeinbildung thatsächlich vielfach nicht bloß am passiven Gehenlassen der Dinge, sondern am direkten Widerstreben vieler naturwissenschaftlicher Fachkreise hängt. Was könnte grade der Naturforscher für eine dominierende Rolle in unserem öffentlichen Leben spielen. Und wo finden [!] man ihn immer mehr? Dort, wo abgewinkt, vertuscht, gebremst wird, – bis jetzt zur hellen Muckerei bei den Keplerbündlern. Na, − Dein Name allein macht viel wieder gut, und er wird schließlich doch aus unserer Zeit bei der Nachwelt so herausleuchten, daß die kleinen Dinge, mit denen wir uns plagen, daneben vergessen werden.

Mit herzlichsten Grüßen

Dein W. Bölsche

NB Beachte doch die paläontol. Rekonstruktionen in dem Buche einmal. Der Zeichner Harder (Steglitz, Lutherstr.) wäre, glaube ich, sehr zu empfehlen, wenn Du für Dein Phylet. Museum einmal Wandbilder oder so etwas brauchen solltest.a

a Text weiter auf dem linken Rand von S. 1: NB Beachte … solltest.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
12.12.1907
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9678
ID
9678