Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 20. April 1904
Friedrichshagen
b. Berlin,
Kaiserstraße.
20.IV.04.
Lieber Herr Professor!
Der Tod der lieben alten Tante Sethe ist meiner Frau und mir recht nahe gegangen, obwohl ja das biblische Maß hier so stolz überschritten war, daß sich keine Forderungen an das Schicksal mehr stellen ließen. Wir hoffen aber, daß Ihnen trotzdem Berlin nicht fremd wird, – Sie wissen ja, welches Fest es für unser Haus stets ist, wenn || Sie uns die Freude eines Besuchs hier draußen im Kiefernforst machen! Möchte es recht bald einmal wieder sein.
In letzter Zeit war Frau Professor Selenka aus München viel hier mit uns zusammen. Ich habe übernommen, Ihnen eine Anfrage von ihr zu übermitteln, obwohl ich ihr gleich sagen mußte, daß ich über die nähere Sachlage selbst in keiner Weise unterrichtet sei, also bloß den Wunsch als solchen weitergeben könnte. Frau Selenka hat, wie || Ihnen bekannt sein wird, s. Z. mit ihrem jetzt verstorbenen Gatten langjährige Forschungsreisen auf Borneo, Java etc. gemacht, auch nach der durch Krankheit bedingten Abreise ihres Gatten auf Borneo das embryologische Orang Utan-Material, das Selenka dann verarbeitet hat, allein weiter gesammelt und jedenfalls eine Bravour seltener Art als Forschungsreisende entwickelt. Nach dem Tode ihres Mannes möchte sie jetzt auf‘s Neue in die Tropen gehen und sich einem größeren wissenschaftlichen Zweck || auf Jahre dort ganz widmen. Sie hat nun die Idee gefaßt, auf Java die Dubois‘schen Trinil-Ausgrabungen fortzusetzen. Sie hat sich mit Dubois selbst in Verbindung gesetzt und – im Gegensatz zu andern, die er sehr scharf abgewiesen hat – von ihm reichen Rat, Situationspläne etc. erhalten. Aus der Sachlage geht hervor, daß mindestens ein gewisses Stück des kritischen Terrains, das die Pithecanthropus-Reste geliefert hat, noch zu durchsuchen ist, abgesehen von nahen geologisch ähnlichen || Orten, die weiterhin für Grabungen in Betracht kämen. Die Wahrscheinlichkeit, grade Pithecanthropus-Reste noch zu finden, ist ja natürlich bei solchen paläontologischen Zufallchancen gering, – aber ich meine, daß es eventuell andere paläontologische Ausbeute von Wert geben könnte und – ganz besonders – daß es wichtig wäre, wenn ein anderer außer Dubois den ganzen Fleck einmal genau aufnähme und beschriebe. Schließlich läßt sich ja über sichere Ergebnisse hier vielleicht allgemein nicht mehr sagen, als man s. Z. Schliemann hätte sagen können, als er anfing, nach Troja zu suchen, || aber die Zähigkeit der Begeisterung thut viel in solchen Fällen. Grade sie ist bei Frau Selenka, wie mir scheint, stark vorhanden, es ist eine kleine nervöse Frau, aber mit einer gewissen nervösen Energie, die doch am rechten Fleck vielleicht mehr leisten wird als ein Anderer könnte. Sie ist nun eine wohlhabende Frau ohne Familie, die schon eine ziemlich große Sache aus eigener Tasche sich leisten könnte. Immerhin gehören für diese Absicht aber ganz außergewöhnliche Mittel als conditio sine qua non, es sind, || auf mindestens 2 Jahre eine Masse einheimische Leute nötig, dann jedenfalls ein Fach-Geologe als Helfer u.s.w. Die Kosten, die sie mit Hülfe von Dubois berechnet hat, sind ganz gewaltige. Früge sich also, ob nicht noch irgend welche Mittel für diesen Zweck als Beisteuer – bloß als Nachhülfe – zu erlangen wären. Eine vorsichtige Anfrage hier in Berlin hat negatives Resultat gehabt, – na, unser Cours hier dürfte sich eben nicht für Pithecanthropus interessieren!! Hier würde man eher Mittel auftreiben, um || das „heilige Grab" anzukaufen oder nach den Stall-Fundamenten in Bethlehem zu graben. Mit Holland hat Frau Selenka sehr gute Beziehungen von ihren Reisen her, doch ist es ebenfalls sehr fraglich, ob von Seiten der Regierung dort Geld zu haben wäre für diesen Zweck, – höchstens Toleranz! Am liebsten möchte Frau S. auch gar keine bindende Staatshülfe, sondern einen Zuschuß aus irgend einer deutschen wissenschaftlichen Stiftung. Nun läßt sie also bei Ihnen durch mich anfragen, ob eventuell aus der || Ritterstiftung in Jena eine gewisse Summe frei und eventuell für solchen Zweck zu vergeben wäre? Oder wäre es möglich, Herrn Ritter persönlich für die Sache zu interessieren?
Ich bin, wie gesagt, vor dieser Frage selber ganz indifferent, da ich nicht das Geringste von den praktischen Möglichkeiten dieser Stiftung weiß und nur öfter von ihrer segensreichen Mitwirkung allgemein gehört habe. Ich habe die Vermittlung bloß übernommen, um der Anfrage einstweilen etwas von einem vertraulichen Provisorium zu lassen, – die geringste Andeutung || von Ihrer Seite, die Sie mir privatim geben, genügt, das Ganze von dieser Richtung auf Jena abzulenken.
Mit den herzlichsten Grüßen Ihr
Wilhelm Bölsche