Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 29. Juni 1898

Friedrichshagen bei Berlin,

Ahorn Allee 19

29.VI.98.

Hochverehrter Herr Professor!

Heute habe ich Ihnen ein vergnügliches Ereigniß zu melden: die Ankunft eines kerngesunden Jungen bei uns, der gestern um ½10 seine anderthalb Semester praktischer Ontogenie glücklich absolvirt hat. Ein neues Lebenskapitel für ihn − und vielleicht ebenso für mich! Einstweilen ist die Sache mit einer braven Regelmäßigkeit verlaufen, und meiner kleinen Frau geht es so vortrefflich, wie es nur irgend gehen kann. Nun aber, da das kleine Aeffchen wirklich da ist, || kommen meine Frau und ich zu Ihnen mit einer Bitte, die schon längst geplant war. Wir möchten Sie nämlich bitten, Pathe zu sein. Da der liebe Kleine natürlich nicht bei der Kirche und ihrer Taufe versichert wird, so möchten wir ihn so gern bei einem guten „Geistesheiligen" versichern. Wenn er einmal in die Vernunftjahre kommt, so soll sein Vorname Ernst ihn erinnern, daß er noch der großen Epoche angehört, in der die „Phylogenie" gegründet wurde. Ich selbst aber möchte in den Namen (und seine Beziehung grade zu Ihnen) etwas hineinlegen von der Empfindung, die ich seit so vielen Jahren in mir trage: der schlichten || Empfindung, daß ich Ihnen das Beste und Tiefste verdanke, was ich überhaupt im Leben gelernt habe, eine unausgesetzt sprudelnde geistige Freudenquelle. Seit dem Tage, da ich als Gymnasiast unter fast romantischen Umständen Ihre „Natürliche Schöpfungsgeschichte" in die Hand bekommen habe, bin ich in jeder Stunde des Denkens über die Natur wie des Naturgenusses in Ihrem Banne gewesen; in diesen Stunden sehe ich aber den wesentlichen Kern meines Lebens, den einzigen, um den es sich lohnt, gelebt zu haben. Möchte der kleine Junge, der jetzt erst anfangen soll, sich durch den schweren Sauerteig des Lebens durchzufressen, zu guter Stunde auch sich selbstdenkend zu dieser || höchsten Glücksquelle, einer freien Naturauffassung und zugleich künstlerischen Naturfreude, hinfinden. Einstweilen soll aber der Name wenigstens schon wie ein kleiner Wegweiser über ihm stehen, – wenn er selber einmal denken kann, wird er ihm schon zum großen werden, wie er es mir geworden ist.

Vielleicht, lieber Herr Professor, führt Ihr Weg Sie im Herbst oder sonst recht bald, wenn es Ihre Zeit erlaubt, einmal wieder hierher, – wir möchten dann, indem wir uns ganz nach Ihrem Kommen richten, eine kleine Tauffestlichkeit veranstalten. Einstweilen halten wir den Namen fest, nicht wahr, das dürfen wir?

In alter Treue,

Ihr Wilhelm Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
29.06.1898
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9584
ID
9584