Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 9. März 1897

9.III.97

Friedrichshagen b. Berlin. Ahornallee 19.

Hochverehrter Herr Professor!

Vielen herzlichsten Dank für Ihre Karte vom Volkano. Seien Sie nicht böse, daß ich Ihren freundlichen Gruß zu Neujahr noch immer nicht erwidert! Aber ich hatte immer vor, einmal ganz ausführlich zu schreiben und dazu kam ich nicht. Ich habe diesen Winter ein ganz eingezogenes Leben geführt, aber im Stillen doch recht arbeitsam! Die Vorstudien zu meiner Aesthetik dehnen sich mir weiter und weiter, ich hoffe aber auch, daß nun etwas Brauchbares herauskommt. Ich habe so viel es irgend möglich war – ganz erlauben es mir leider meine materiellen Verhältnisse nicht − alle andern Pläne und Arbeiten vorerst a zurückgestellt, um mich auf Jahre hinaus wesentlich diesem einen Zweck || zu widmen, ich merke aber, daß es doch das einzige Gebiet ist, wo ich hoffen darf, etwas im eigentlichen Sinne selbständiges zu schaffen. Ich möchte sehr, daß ich einmal Gelegenheit hätte, mit Ihnen ausführlicher meine Absichten zu besprechen. Kommen Sie in diesem Frühjahr noch einmal nach Berlin? Es wäre sehr schön! Ich habe eine Menge Stoff und Einzelgedanken für meinen Zweck gesammelt, werde aber zur eigentlichen Ausarbeitung so bald noch nicht kommen, da mir noch eine Masse fehlt. Ich dachte anfangs nur daran, den alten ästhetischen Begriff des „Naturschönen" auf einen klaren Ausdruck zu bringen. Im Verlaufe dieses engeren Studiums bin ich aber von selbst viel weiter geführt worden, habe den ganzen Begriff „Ideal" mir neu und individuell durcharbeiten müssen und habe letzten Endes eingesehen, daß ich in ein Buch dieser Art, wenn es halbwegs was werden soll, meine ganze || individuellste Weltanschauung hineinpacken muß. Auf alle Fälle scheint es mir, daß die Grundideen der Entwickelungslehre, wie wir sie heute haben, wirklich fundamental Neues für eine Aesthetik bieten können, ohne daß das bis jetzt irgendwie ausgenutzt wäre. Man hat dort wohl mit dem Gedanken gespielt, – wie ja so viel moderne Geisteserrungenschaft in ästhetischen und ästhetisierenden Kreisen eigentlich bisher nur ein hübsches Spielzeug war, – – aber Ernst hat man noch nirgendwo damit gemacht.

Mein Leben hat sich in letzter Zeit äußerlich zwar etwas resigniert, aber doch relativ angenehm gestaltet. Meine frühere Frau hat sich vor kurzem sehr glücklich wieder verheiratet. Ich hause, wie Sie sehen, nach wie vor im alten Friedrichshagen. Ihr Gruß aus Sizilien hat freilich gleich die lebhaftesten Reisegelüste bei mir ausgelöst. Ich sah den Aetna vor mir, wie ich ihn vor Jahren scheidend zuletzt auf der Ueberfahrt von Messina nach Reggio gesehen, – es ist doch || ein wundervoller Berg! Nach den Liparischen Inseln bin ich leider! – bei der Kürze der Zeit, die mir zur Verfügung stand, damals nicht gekommen. Ich hoffe immer noch, daß es mir mitten in meine ästhetischen Studien hinein gelingen könnte, einen Ausflug in die Tropen zu machen. Es ist das Stück Welt, das mir fehlt, – auch für die Natur-Aesthetik verzweifelt fehlt! Bisher sind leider meine Versuche, journalistisch so etwas zu erreichen, immer fehl geschlagen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.

Geistig war ich in der Zwischenzeit viel bei Ihnen, – bei der eingehenden Lektüre Ihres prächtigen zweiten Bandes der „Phylogenie", und der „Amphorideen ud. Cystoideen". Ich danke Ihnen aufs herzlichste für Uebersendung beider Werke, die mir eine Quelle des intensivsten Vergnügens in diesem Winter gewesen sind. Auf frohes Wiedersehen! Sollten Sie nicht nach Berlin kommen, so komme ich jedenfalls im Sommer einmal nach Jena herüber, um manches in meinen Aesthetik-Plänen mit Ihnen zu besprechen!

Mit herzlichsten Grüßen

Ihr W. Bölscheb

a gestr.: ganz; b weiter auf dem linken Rand von S. 4: herüber, um … W. Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
09.03.1897
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9578
ID
9578