Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 23. Februar 1896

Friedrichshagen b. Berlin, Ahorn Allee 19.

23.II.96.

Hochverehrter Herr Professor!

Herzlichsten Dank für Ihre wiederholten freundlichen Sendungen, die mir stets sehr große Freude gemacht haben. Den 3. Bd. der „System. Phylogenie" habe ich eingehend für die „Deutsche Rundschau" besprochen, die Kritik wird hoffentlich nicht allzu lange dort liegen bleiben. Dieser Tage erhielt ich von der Redaktion dort auch das interessante Buch von Vetter (2. Aufl.) zur Kritik, ich werde auch darüber eingehend berichten. Ich habe hier den Winter sehr still verlebt und hoffe jetzt auf einen hübschen Sommer. Ich gedenke wieder in den Alpen etwas zu klettern, diesmal wahrscheinlich in Tirol, das ich noch gar nicht kenne. Nach Italien komme ich auch dieses Jahr leider wohl noch nicht trotz aller Pläne. ||

Hoffentlich ist Ihre Gesundheit nach der vorigjährigen bösen Katastrophe wieder ganz hergestellt. Haben Sie von den Schicksalen meines Freundes Wille hier gehört, der wegen seines Unterrichts bei Freidenker-Kindern eingesperrt wurde? Die Sache ist wirklich uner-hört gewesen! Gegenwärtig liegen die Sachen also glücklich so bei uns in Berlin, daß auf der einen Seite absoluter Zwang besteht, daß alle Kinder irgend einen Religionsunterricht erhalten müssen, – auf der andern Seite aber jeder freidenkerische, von Wundern und Offenbarungen abstrahirende Religionsunterricht einfach mit Gefängniß bestraft wird!! Die Geschichte hätte mir selbst sehr leicht passiren können, da ich früher einmal sehr nahe dabei war, diesen freien Jugendunterricht zu übernehmen, || – mich schreckten damals nur gewisse Bornirtheiten grade der Berliner freireligiösen Gemeinde ab, – Kleinigkeiten übrigens, die gegen die schmachvolle Gefängnißpolitik von oben wirklich kaum in Betracht kommen. Betrüblich ist noch besonders, wie wenig Lärm diese Vergewaltigung der einfachsten Voraussetzungen freier Lehre macht! Wo bleiben die hiesigen Herrn von der „Ethischen Kultur"? Man hört nichts davon!

Mit herzlichsten Grüßen Ihr

W. Bölsche

 

Briefdaten

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.02.1896
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9576
ID
9576