Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Zürich, 3. August 1894

Zürich-Enge, Seewartstr. 12I.

3.VIII.94.

Hochverehrter Herr Professor!

Eben von einer Gebirgstour auf den Gotthard zurückgekehrt, finde ich Ihr prächtiges Bild. Allerherzlichsten Dank, – es hat mir sehr große Freude gemacht! Die Detail-Wiedergabe ist eine ganz wundervolle, so schön, wie ich sie kaum noch bei einem Portrait in dieser Herstellungsart gesehen. Unter Glas und Rahmen wird es ein köstlicher Schmuck meiner Wohnung sein. Freilich stehe ich auf dem Punkt, für ein halbes Jahr wenigstens meine ganze Einrichtung hier im Stich zu lassen, ich will im September nach Rom gehen und dort den Winter zubringen. Nach dem völlig eingezogenen Leben, das ich hier geführt, hoffe ich, im Anblick von soviel Kunst- und Naturschönheit || mir etwas Frische für meine Nerven zurückzuerobern, – was mir hier leider noch immer nicht recht gelungen ist. Wenigstens habe ich ein Stückchen intimere Alpenlandschaft hier genossen, besonders die Thäler im Canton Glarus mit ihrer wundervollen Vegetation. Schließlich ist die Natur ja das Universalmittel gegen alle seelischen Bitterkeiten, – aber die Kur kommt doch nur langsam!

Die Festschrift habe ich mit viel Vergnügen durchgelesen. Bei Ihren Reden darin ist mir nur der Wunsch wieder besonders vage geworden, den ich schon lange hege: daß Sie nämlich Ihre Lebenserinnerungen einmal in weiterer Ausführung veröffentlichen möchten. Es würde das, abgesehen von dem psychologischen Wert für das Bild des Menschen, zweifellos einer der – ich möchte sagen, notwendigsten Beiträge zur Geschichte unserer Geistesentwickelung im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts sein, – ein Beitrag, den doch || im rechten Umfang nur Sie selbst liefern könnten. Meine Arbeit am 2. Bd. der „Entwickelungsgeschichte" machte es mir vor einiger Zeit zur Pflicht, die sämmtlichen Bände der Zeitschrift „Kosmos" noch einmal durchzublättern; dabei sind mir, so viel Schönes die Zeitschrift auch birgt, doch eigentlich die Lücken im historischen Bilde der darwinistischen Bewegung in Deutschland mehr aufgefallen, als ich erwartet hatte. Hier würden Ihre Memoiren grade den rechten Zusammenhang und Grundstock liefern!

Mit den herzlichsten Grüßen und nochmals vielem, vielem Dank

Ihr W. Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
03.08.1894
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9571
ID
9571