Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Berlin, 26. Februar 1887
Berlin N. W. Paulstr. 9
Hof r. II.
26.II.87.
Hochverehrter Herr Professor!
Wie ich einer Zeitungsnotiz entnehme, sind Sie auf einem Ausfluge nach dem Oriente begriffen, und so wird es denn wohl einige Zeit dauern, bis diese Zeilen und das kleine Buch, das ich Ihnen zugleich mit denselben zu überreichen wage, in Ihre Hände kommen. Selbst dann aber, wenn es geschehen, weiß ich nicht, ob der Titel Sie reizen wird, eine Stunde Ihrer kostbaren, dem edelsten Dienste gereichten Zeit dem Inhalte des Heftchens zu widmen. Die Pflicht, der ich nachkomme, indem ich es Ihnen sende, ist die einfache der Dankbarkeit. Obwohl ich || niemals die Ehre gehabt habe, persönlich mit Ihnen zusammen zu treffen, so sind Sie, hochverehrter Herr Professor, in vieler Hinsicht doch entscheidend für mein ganzes Denken und Leben geworden. An Ihren populären Werken − zumal der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ − habe ich meinen Geist zur Zeit, als er anfing, tieferen Fragen zugänglich zu werden, zuerst geschult, sie sind mir die eigentliche Brücke zu einer klaren und sicheren Weltanschauung geworden.
Ich bin von ihnen nicht nur in die Beschäftigung mit den strengeren Teilen der Naturwissenschaft eingeführt worden, sondern sie haben mir (was mir größeren Wert hat, da ich schließlich bei meinem Studiengange auf ganz andere Gebiete − Aesthetik und Poesie geraten bin) eine gewisse Richtschnur ein für alle Mal mit gegeben, die ich auf gänzlich verschiedenem Boden wie einen Ariadnefaden neben mir herlaufen || sehe. Heute − nach jahrelanger Beschäftigung auf dem litterargeschichtlichen und ästhetischem Felde, dem meine ganze Kraft jetzt angehört, − empfinde ich mit ungeschwächter Stärke den Einfluß, den Ihre Wirksamkeit auf mich ausgeübt. Und da sich eine Gelegenheit bietet, wäre es undankbar, Ihnen das nicht auszusprechen. Gewiß ist es nur das Bekenntniß eines Einzelnen von Tausenden, denen Ihre Werke dasselbe gewesen sind. Aber vielleicht ist es der seltenere Fall, daß aus ästhetischen Kreisen eine solche Stimme sich Ihnen naht. Unsere moderne Aesthetik ist, wie Sie wissen werden, ja leider noch darin die echte Schwester der Theologie, daß sie der wüste Tummelplatze der unklarsten metaphysischen Träumereien bleibt, anstatt sich mit der echten Wissenschaft auseinanderzusetzen. Das kleine Buch, das ich jetzt verfaßt, wünscht hier bloß in ruhiger Erörterung etwas zur Sache zu reden. Es sind nicht jene wüsten Umsturzideen, die auch in der || Litteratur unserer Tage das andere, ebenso böse Extrem vertreten, denen ich das Wort rede. Es scheint mir in einer Verständigung zwischen Naturwissenschaft und Aesthetik vielmehr das höchste Erbe angetreten zu sein, das wir Deutschen durch unsere litterarische Vergangenheit besitzen: nämlich das Erbe Göthes, das Erbe des Mannes, dem auch Sie so manches schöne Wort gegönnt haben. Gewiß ist es schwere Pionierarbeit, die bei solchem Unterfangen noch zu thun ist, und Sie werden keinen zu hohen Maßstab an das einstweilen Gebotene anlegen dürfen. Es würde mir aber eine innige Freude bereiten, grade von Ihnen gelegentlich ein freundlich aufmunterndes Wort bei einer Arbeit zu hören, die ihrer Natur nach zahllosen Mißdeutungen ausgesetzt ist und von theologischen Aesthetikern wie ästhetischen Theologen gleichermaßen verketzert werden wird.
In der Hoffnung, daß diese Zeilen Sie in bestem Wohlsein antreffen mögen, verbleibe ich
Ihr hochachtungsvoll ergebenster
Wilhelm Bölsche.