Ritter, Paul von

Paul von Ritter an Ernst Haeckel, Basel, 23. Mai 1887

Basel

8 Schärtlingasse

23r Mai 1887

Hoch geehrter Herr Professor,

Bitte mich gütigst entschuldigen zu wollen sobald ich der guten Sitte zuwider Ihnen den richtigen und guten Empfang des Werkes über die Challenger-Radiolarien, womit Sie mich freundlichst beehrten und welches mir unendliche Freude und große Ehre bereitete, nicht sofort habe zur Anzeige bringen können. –

Ein unerwarteter lieber Besuch aus weiter Ferne und die unverdiente Ehre der herrlichen Widmung, welche das Geschenk begleitete, haben meine Sinne verwirrt und meine Gefühle paralysirt so, daß es einiger Zeit von Sammlung bedurfte, um aus dem augenblicklichen Chaos in das Getriebe des alltäglichen Geschäftslebens wieder einzulenken.|| Ich danke Ihnen von Herzen für diesen neuen Beweis Ihres Wohlwollens, weil ich von dem Bewußtsein getragen bin, welche umfassende Kenntniß, welche Liebe zur Wahrheit, welche Geduld und Ausdauer es Sie gekostet hat, dieses Denkmal Ihrer geistigen Kraft ins Leben zu rufen und in diesem Gefühle Ihrer geistigen Kraft und Unabhängigkeit durch Übersendung dieses epochemachenden Werkes auch an mich gedacht zu haben. –

Ich bewundere die herrlichen Tafeln des Werkes alle Tage und versenke mich in die Tiefe der allmächtigen Schöpfungskraft, welche mit der geheimnißvollen Zauberformel „bis hierher und nicht weiter“ diese wunderbaren Kunstformen, welche die Tiefe der Meere bewohnen, geschaffen hat. – Wie die || Gesetze der Attraction und Gravitation uns die Unendlichkeit des Himmels erschließen, so wird das phylogenetische Gesetz der Einheit in der Vielfalt, das Leben der Zelle mit ihren fantastischen Metamorphosen u. Formen uns in die Geheimnisse der Natur einführen und um mit Victor von Scheffel zu sprechen uns von der Schönheit zur Glückseligkeit führen. –

Den Fortschritt, welchen die Menschheit in geistiger und sittlicher Beziehung gemacht hat und gegenwärtig zu machen scheint, verdankt sie in erster Linie den Naturwissenschaften und insbesondere den tugendhaften und tapferen Trägern der phylogenetischen Entwickelungslehre.|| Die Zahl ihrer geistigen Träger ist freilich gering und ihre Namen sind im Gothaschen Hofkalender nicht verzeichnet, aber die Zeit wird kommen wo die dankbare Nachwelt ihnen würdigere Gedenkbücher zuweihen wird. – Xanthus von Lydien, der große Geograph Strabo, der Benediktiner Seyjvo, der Dominikaner Giordano Bruno, Galilei, Copernicus, Kepler, Newton, aBuffon, Goethe, Lamark, Darwin und der hochgeehrte Professor Haeckel werden als Gestirne erster Größe in denselben beinmal verzeichnet werden. –

Getragen von diesen Gefühlen eines besseren und dankbaren Verständnisses von Licht und Wahrheit, – sage ich Ihnen nochmals meinen herzlichsten Dank für das reiche Geschenk des Challenger Werkes über die von Ihnen veröffentlichten Wunder der Meerestiefen, die Radiolarien, und zeichne mit freundlichen Grüßen, –

Hochachtungsvoll und ergebenst

P. v. Ritter

Meinen Brief v. 17n Mai 87 werden Sie hoffentlich erhalten haben. –

a eingef.: Buffon, b eingef.: einmal

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
29.05.1887
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9270
ID
9270