Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 16. September 1896

Wien, 16. September 1896.

XIX. Colloredogasse 1.

Hochverehrter Herr Professor!

Ihr, aus München datirter Brief hat mich tief beschämt. Das schließt nicht aus, daß er mich auch unendlich beglückt hat. Aber ich habe, gerade im Hinblick auf unsere gemeinsame Weltanschauung, die Empfindung Ihnen so wenig geboten zu haben, daß Ihre liebenswürdige Apostrophe an meinen Genius mich, wie gesagt, beschämt. Das Lauschen und Schweigen ist sonst gerade kein Haupt-||zug meines Wesens. Wenn ich Ihnen aber gestehe, daß mir durch Ihre persönliche Bekanntschaft ein jahrelang gehegter Herzenswunsch in Erfüllung ging, werden Sie Manches begreiflich finden. Seit meiner frühesten Jugend stand ich im Bann Ihres Genius; Ihre Werke liegen seit Jahren auf meinem Schreibtisch, und wenige Tage vergehen, wo ich nicht Zwiesprache mit ihnen gehalten hätte oder hielte. Und nun standen Sie plötzlich selbst vor mir. Das und alles Folgende kam so plötzlich über mich, fast wie ein Wunder … [!] und machte mich stumm wie ein Wunder! Ich muß sagen, daß ich noch || jetzt nicht recht zu mir gekommen bin, und tief beschämt, über die Hilflosigkeit, in der ich mich die ganze Zeit über Ihnen gegenüber empfand, nun umso treuer wieder in Ihren Spuren wandle, so daß ich, wenn Sie von einer Klosterzelle reden, thatsächlich eine Haeckel-Clausur citiren kann. Das schließt nicht aus – oder hat vielleicht erst recht zur Folge? – daß die traumschönen Linien Salzburgs, vom Mönchsberg gesehen, und der Sonnenglanz von Aigen sich immer wieder verklärt vor meiner Seele zeichnen, und alle, dem Katholikentag vermeinten Raketen und Feuerkugeln jenen Weg noch einmal beleuchten. Und || so träum’ ich eigentlich denselben Traum, von dem Sie uns erzählt, nur, ohne zu schlafen.

Knapp vor meiner Abreise erhielt ich eine reizende, uns Allen vermeinte Karte Carneris, die ich, in der Überzeugung, Ihnen eine Freude zu bereiten, beischließe. Meine nächste Sendung wird dann eine Lösung des Rätsels bringen, das den guten frommen Seelen meiner Kloster-Pension so schwere Stunden bereitet. Vielleicht erinnern sich Herr Professor, daß ich selbst mir auf dem Mönchsberg den Kopf zerbrach darüber. Nun – ich höre schon jetzt Ihr herzliches Lachen! Herr Professor Müllner meldet seine herzlichsten Empfehlungen und Grüße; ich bleibe in unwandelbarer Verehrung

Ihre treuergebene

Eugenie delle Grazie

Brief Metadaten

ID
9
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Österreich
Datierung
16.09.1896
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
11,3 x 17,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9
Zitiervorlage
Delle Grazie, Marie Eugenie an Haeckel, Ernst; Wien; 16.09.1896; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_9