Allmers, Hermann

Hermann Allmers an Ernst Haeckel, Rechtenfleth, September 1893

Rechtenfleth

Spt 93.

Herzlieber Haeckel.

Sicher hast Du lange schon diesem Briefe entgegen gesehn. Zumal Walter nun bald dreia Wochen hier ist, kann Dein Vaterherz mit Recht einen Bericht über ihn verlangen. Du hättest einen solchen auch längst gehabt, wenn ich ihn so vollständig zu geben vermöchte wie es sein sollte d. h. ihn nicht nur als Mensch, sondern, was hier die Hauptsache sein mußteb, als Maler beurtheilen. ‒ Und da muß ich denn mit wahrer Herzensfreude sagen daß Ihr in Betreff des Ersteren wahrhaft stolz auf Euren lieben prächtigen Jungen sein könnt, der durch sein || frisches fröhliches Wesen, seine Klarheit und sein ideales Streben mit jedem Tage uns Allen lieber wird und ein so reizendes und belebendes Element ins Haus gebracht hat, daß wir geradezu glücklich darüber sind und ihn behalten möchten so lang es geht, vor Allen meine Nichten, die in erster Linie c das Musikalische anzieht und worin er in einem jungen hiesigen Lehrer einen eifrig Mitstrebenden gefunden hat.

Nur von dem, was sein Lebensberuf sein soll, hat er sich [!], abgesehn von seinen mündlichen Auseinandersetzungen bis jetzt auch noch nicht das Geringsted gezeigt e, seis per Pinsel oder Stift, denn bisher konnt es der liebe Gott ihm || nie hier recht zu Dank machen, undf weil er nun einmal mit jeder Faser seines Herzens g Stimmungsmaler ist und sein will, war der Rechtenflether Marschenhimmel ihm bald zu wolkenvoll, bald zu wolkenlos. Aber, das verstehn wir Alten und Altmodischen nicht. So bleibt ihm natürlich Nichts übrig als über Malerei zu reden und zu lesen und mit Beidem füllen wir meistens gemeinsam die Nachmittage, wenn er nicht mit dem Lehrer Musik macht. Die neue ausgezeichnet geschriebene h Geschichte der Malerei des 19. Jahrh. von Mutheri beschäftigt uns am meisten

und befestigt ihn in seiner Richtung erst vollends. k So wird von dem „Kopfzurechtsetzen“ das ich mir zur heiligsten Aufgabe gestellt hatte schwerlich l Viel werden. ||

Nun aber müssen auch wir gerecht sein gegen diese Intimisten wie Walter davon Einer ist. m Die Strömungen allern o wissenschaftlichen oder künstlerischen p Bestrebungen gehen, wie Du weißt, stets im Zickzack vorwärts, bald rechts, bald links übers Ziel hinausschießend so daß erst in der endlichen Ausgleichung Beider mit einander das Vollendete und Vollkommne

wird. ‒

Wir Alten und namentlich Du, haben vor allemq die Formen im Auge gehabt, gefesselt von deren Schönheit (Lieblichkeit oder Majestät) oder Seltsamkeit (denke an Deine „Felsenmanie“ im Sommer 1859.) Das war das Zuviel nach jener Seite. Dasr tiefere Gemüt aber kam dabei zu kurz weil es sich nicht darin s genug versenken konnte also nur einen

oberflächlichen Genuß hatte. Jetzt ist aufs Entschiedenste der Umschlag eingetreten und nur zu oft noch || ins Gegentheilt, in die Verachtung der Formenwelt (Composition) und dagegen müssen wir kämpfen wo und wie wir können mit aller Macht in Wort, Schrift und Bild und bei unserm lieben Walter will ichs zunächst thun indem ich u ihm die herrlichen epheugeschmückten Trümmer der alten Abtei Hude, die uralten Rieseneichen des Haßbruch und das kleine aber wundervolle Stück Urwald bei Neuenburg kennen lehre sobald das Wetter nur erst wieder sonnig und beständig wird. Könnte ich ihn nur auch dahin bringen Einiges aus dieser Prachtformenwelt gründlich zu studiren dann könnte er v es gern so „intim“ so tief, so innig so stimmungsvoll darstellen wie nur irgend möglich. Jedenfalls würde ein interessanteres w und schöneres Bild entstehen || als ein Dutzend der bei den Intimen sox beliebten modernen y Baumkrüppel liefern. ‒

Säh ich doch nur endlich einmal etwas z Maaßgebendes von seiner Hand, dann wollt ich Dir schon Mehr sagen. Aber auch jetzt schon bin ich ganz und gar nicht in Sorge seinetwegen, wer sich so klar über sein Wollen und Können ist, wie er, wird seine richtige Bahn schon finden. Das geträumte „Kopfzurechtsetzen“ aber habe ich bereits aufgegeben und der Huder Abtei, den Eichen des Hasbruch und des Urwalds überlassen.

Sonst hab ich wenig Meldenswerthes für Dich. Vom Anfall der Influenza, die mich im Juni arg unterhatte, habe ich mich völlig erholt, der Liederborn aber ist versiegt bis zum letzten Tropfen. Mein Friesenlied, mein Schwanenlied aber erobert unsre ganze Nordseeküste bald, und wird sicher das Stamm- Heimats- und Herzenslied werden. ||

Mein Leib in Heimatserde,

Mein Lied in Volkesmund,

So wollt ich, daß es werde

Nach meiner letzten Stund.

So lautet meine letzte Strophe, möge sie wahr werden.

Mein Winterleben wird jedenfalls ein sehr häusliches werden. Vor Allem denke ich meine „Jugenderinnerungen“ an denen ich schon zu öfterem schrieb, zu vollenden, die dann, nebst dem kleinen Roman Harro Harrsen, der Elektra und einer sorgsamaa gewählten Nachlese von bb Gelegenheitsdichtungen das sechste Bändchen meiner erschienenen Schriften bilden sollen. ‒ Auch einen cc erläuternden Text zu den Bildern meines Hauses, die ich photographieren lassen will, möchte ich schreiben. ‒

So eben besuchte mich ein junger Mann aus der Nähe, welcher in Jena studirt namentlich || um Dich zu hören. Er ist Philosoph und Reformbursch und bedauerte lebhaft daß Du dd der Naturphilosophie vor Allem dem Monismus kein eignes Colleg gewidmet hättest was die Zahl Deiner Hörer sicher verdreifachen würde. Döscher ist deree Name dieses reichen und in

schönster Unabhängigkeit dastehenden Jünglings. Sollte er Dir einmal seine Aufwartung machen nimm ihn so freundlich auf wie möglich, er kann der guten Sache vielleicht noch bedeutend nützen.

Und nun lebe wohl mein Herzensfreund sei herzlich gegrüßt sammt den lieben Deinen und bleibe was Du bist

Deinem treuen

H. Allmers

a gestr.: vier; eingef.: drei; b gestr.: sollte; eingef.: mußte; c gestr.: sein; d korr. aus: den Geringsten; e gestr.: Strich; f gestr.: denn; eingef.: weil; f gestr.: zur; h gestr.: Kunst; i mit Einfügungszeichen eingef.: von Muther; k gestr.: und; l gestr.: Etw; m gestr.: Das sie ferner ist ja bekannt; n gestr.: jeder; eingef.: aller; o gestr.: Wissenscha; p gestr.: Seb; q gestr.: namentlich; r gestr.: Die modernen „Intimisten“ dagegen verachten; eingef.: Das; s gestr.: still; t gestr.: Getheil; eingef.: Gegentheil; u gestr.: mit; v gestr.: sie; w gestr.: besseres Bild; x gestr.: bei den Intimen so; y gestr.: Krü; z gestr.: Ordent; aa eingef.: sorgsam; bb gestr.: Dichtungen; cc gestr.: Comm; dd gestr.: kein; ee gestr.: sein; eingef.: der

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
??.09.1893
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 8719
ID
8719