Johannes Barchudarian an Ernst Haeckel, St. Petersburg, 16. Dezember 1897
Hochverehrter Herr Professor!
Es ist für mich eine große Freude, mein hochverehrtester Lehrer, meine herzlichsten Glückwünsche zum Jahreswechsel Ihnen und der gnädigen Frau Professor zu senden. Es ist ein Glück für mich, daß es mir vergönnt ist dem ehrwürdigsten Manne der Wissenschaft diese Zeilen zu schreiben. Herzlichsten Dank spreche ich aus für den liebenswürdigen Brief, den Sie mir nach Tiflis geschrieben haben. Ich konnte wohl nicht antworten, da [ich] seit einem Monate in Petersburg bin, um mein Magister-Examen abzulegen. Eben vor einigen Tagen habe ich die Zulassung erhalten und nach einem Monate habe ich die ersten zwei Examina || abzulegen. Es ist ein komisches und psychologisch unmögliches Examen. Aber was soll man machen. Passt Lessingsspruch „Der Mensch muss nicht müssen“ hier gar nicht. Das Examen dauert 9 volle Monate. Im September vielleicht werde ich zwei Probevorlesungen halten, um das Docenturrecht zu bekommen. Ich bin augenblicklich mit der Psychologie beschäftigt: es wird von mir genaue Kenntnisse der Psychologie der deutschen, englischen und französischen Schulen verlangt. Ich bin jetzt fast überzeugt, das selbst die psychologischen Erscheinungen philogenetisch zu erklären sind. Dies Examen hat für mich insofern eine Bedeutung und Wichtigkeit, daß ich aus den engen Rahmen der Herbartischen Psychologie heraustrete. Ziehen gefällt mir meistens, denn er versucht, zwar sagt er nicht, das Herbartische mit physiologischer Psychologie zu vereinigen, aber es gelingt ihm herzlich wenig. ||
Ich hatte wenig Ahnung von diesen Schwung in der Psychologie, denn Sie wissen, wie in unseren Seminar ist, Alles und in Allen ist Herbart und wenn einer ohne naturwissenschaftlichen Kenntnisse ist, so bleibt er sicher ganz einseitig. Bitte, lieber Herr Professor, wenn irgendwelche Schrift, die die psychologischen Principien, resp psychischen Vorgänge und Erscheinungen auf Grund der Vererbung behandelt, mitzuteilen. Empfangen Sie herzliche Glückwünsche von Ihrem ganz ergebensten und dankbarsten asiatischen Freund und Schüler
Dr. Johannes Barchudarian
16 December 1897,
S. Petersburg
Bolschaja Italianskaja 15