Bauer, Wilhelm

Wilhelm Bauer an Ernst Haeckel, Berlin, 14. Februar 1904

Berlin 14/II.04.

W. 15. Pariserstr. 13.

Aus meinen Tagebuch-Aufzeichnungen:

„…Wieder bin ich ein Jahr älter geworden und zwar ein Jahr, das einen Wendepunkt bedeutet in meinem inneren Leben. Noch ists nicht allzu lange her, da besaß ich so gut wie keine Weltanschauung. Das heißt, ich hatte jene konventionelle Weltanschauung, wie sie tausend Andere auch ihr eigen nennen, die aber auf die Dauer meine innere Leere nicht auszufüllen vermochte. Es fehlte mir etwas. Und in jener stillen Wintertagen in…glaubte ich den rechten Weg gefunden zu haben. Befreit von den leeren Buchstaben – und Wunderglau-||ben, hatte ich den uns von der Kirche aufgedrängten Vermittler zwischen Gott und den Menschen bei Seite geschoben und wähnte nun, den Pfad betreten zu haben, der unvermittelt zu Gott führt. Ich ging ihn freudig, diesen Weg und, a wenn es auch noch manche Stunde der Unruhe und des Zweifelns gab, meinte ich doch zu fühlen, daß ich meinem Gott näher und näher kam.

Da begegnete ich einem Mann, der mich aufforderte, den betretenen Weg zu verlassen und ihm zu folgen in anderer Richtung: dort sei das Ziel, nach dem ich strebte. Und ich ging mit ihm, anfänglich nur, um ihm zu beweisen, daß er den falschen Weg eingeschlagen habe. Noch hatte ich aber eine || kurze Strecke erst im Gespräch mit ihm zurückgelegt, da fiel es wie Schuppen von meinen Augen, da zogs mich mit unwiderstehlicher Macht weiter fort, denn am Ende des Weges, den er mir wies, da leuchtete in flammender Schrift ein Wort auf und dieses Wort hieß: Wahrheit. Noch einmal wandte ich den Blick zurück – sprach nicht etwas wie Wehmut aus ihm? – auf jenen Pfad, den ich vor Kurzem noch gegen keinen anderen eingetauscht hätte; dann aber schritt ich kräftig aus auf dem Wege zur Wahrheit. Und heute weiß ich: er ist der richtige, auf ihm gibt es kein Zweifeln, kein Schwanken. Und zwei Begleiter haben sich mir zugesellt im Wei-||terschreiten: der eine ist die innere Ruhe, der Frieden in mir, der andere, das ist die glühende Liebe, das wahre Verständnis für die Natur in ihrer Einheit, für all‘ das, was sie geschaffen.“

Dem Manne, der mir durch seine Schriften den Weg zur Wahrheit gewiesen, sendet zum siebzigsten Geburtstage innige Wünsche

in dankbarer und treuer Verehrung

Wilhelm Bauer.

a gestr.: tat

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
14.02.1904
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 7977
ID
7977