Paul Bekker an Ernst Haeckel, Berlin, 22. Dezember 1905
Hochverehrter Herr Professor!
Bereits im September dieses Jahres hatte ich mir erlaubt, anknüpfend an einen Punkt Ihrer „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ über die „Wunderkinder“ in der Musik eine Anfrage an Sie zu richten. Sie hatten damals die außerordentliche Liebenswürdigkeit mir eine Karte mit Ihrem Bilde zu senden u. in einigen Zeilen auch auf meine Frage einzugehen. Ich brauche Ihnen, hochverehrter Herr Professor, wohl || nicht erst zu versichern, wie sehr mich diese persönliche Teilnahme Ihrerseits erfreut hat und daß ich den Wert derselben nicht hoch genug anschlagen kann. Das Aufmunterungszeichen, welches Sie mir so gütig zuteilwerden ließen, veranlaßte mich, über das s. Z. angeschlagene Thema öfter nachzudenken und es mir, so gut es mir möglich war, plausibel zu machen. So kam ich dazu einen Aufsatz unter dem Titel: „Lebenswunder in der Musik“ zu schreiben. Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen denselben zuzusenden. Folgendes möchte ich dazu noch bemerken: In rein naturwissenschaftlichen Dingen bin ich selbstverständlich nur Dilettant. Wenn diese kleine Arbeit überhaupt eine Art von Wert haben sollte, könnte es meiner Meinung nach nur der sein, daß ich versuche, die Gesetze der natürlichen Entwickelungslehre auf die Musik zu übertragen. Meines Wissens ist dieser Versuch noch nicht gemacht worden. – Falls Sie meine Arbeit einer Durchsicht würdigen sollten, werden Sie finden, daß ich das Problem „Wunderkinder“ (von dem ich ursprünglich ausging) nur als secundäres behandelt habe und mich vor allen Dingen mit der || vielleicht nicht uninteressanten Frage beschäftigt habe: wie lassen sich die mechanischen und geistigen Fähigkeiten des Musikers überhaupt auf natürliche Weise erklären?
Rechnen Sie hochverehrter Herr Professor, es meinem Interesse an dem Gegenstand selbst zu gute, daß ich es wage, an Sie zu schreiben, und genehmigen Sie den Ausdruck aller vorzüglichster Hochachtung mit welcher ich zeichne
ganz ergebenst
Paul Bekker
22/XII.05.
Berlin C. 54.
Sophienstr 18.