Hedwig Behnisch an Ernst Haeckel, Breslau, 26. Dezember 1903
Breslau 26.12.03.
Hochverehrter Herr!
Vor kurzer Zeit habe ich Ihre „Welträtsel“ gelesen und muß Ihnen nur mitteilen, daß ich Sie darum schätze und verehre. Nicht ich allein bin der Ansicht, daß das eines der lesenswerteren Bücher ist die existieren – viele von meinen Bekannten Herren und Damen sind begeistert davon. Vielleicht interessiert es Sie, auch aus unseren Kreisen mal eine Stimme darüber zu hören! ||
Ein Cousin von mir verbreitet die Welträtsel – seit sie in der kleinen billigen Ausgabe erschienen sind – wo er sie kann, und hat schon über ein Dutzend Exemplare verschenkt! Wenn man doch leben könnte und seine Ansichten äußern – aber man wird ja verpönt und in Bann gethan. Sie glauben gar nicht, wie schwer es ist, in kirchlich gesinnten Kreisen zu leben mit so abweichenden Ansichten. Ich schleppe mich mein ganzes Leben damit herum, denn ich hatte schon als Kind von 12 Jahren meine eigenen Gedanken über allerhand. Confirmation war mir eine Tortur; dann kommt dazu, daß || mein Vater sehr streng kirchlich gesinnt ist, zum Glück aber ach wirklich gut und fromm, nicht nur kirchlich gesinnt ist, zum Glück aber auch wirklich gut und fromm, nicht nur kirchlich gesinnt. Ich lebte früher auf dem Lande und habe immer sehr gern und lebhaft die Natur beobachtet – ich bin jetzt erstaunt, wie einfach und natürlich und richtig ich als Kind gedacht habe. Gesellschaft hatte ich nie und bin auch durch Bücher nicht in diese Ideenwelt gekommen. Ich kann mich nicht entsinnen, daß ich von dem Moment des bewußten Denkens ab, jemals wirklich geglaubt hätte, und war hier seit dem 12. oder 13. Jahr. Allerdings fingen dann die nicht leichten Qualen an, daß man sich sündhaft usw. vorkam, weil man sich im Gegensatz zur nächsten Umgebung befand, zu Eltern usw. Ich frage || Sie, soll das bei unseren Kindern wieder von vorn so anfangen?
Sollen wir denn alle diese Märchen als das „höchste Heiligste“ handigen? Thut man es nicht, so gerathen sie mit der Schule wieder in Conflikt, und in noch größeren mit sich selber. Es ist sehr schwer. Ich wüßte wahrhaftig nicht, was ich thun sollte, wenn ich heiratete und ich käme in die Lage, Kinder zu erziehen. Es scheint mir dieses ganz undurchführbar. Und wenn man dabei die Wahrheit so anders zu kennen glaubt! Ich kann doch nicht so unnatürlich empfinden, da ich als Kind schon auf diese Gedanken kam und nun in allem die Bestätigung später gefunden habe! – Ich hoffe Sie mißverstehen mich nicht ganz! Wenn ich doch auch Ihre anderen Werke || a lesen könnte. Kaufen kann ich sie nicht und in „Volksbibliotheken“ giebts doch sowas nicht!!! Aber ich werde Sie || b immer bewundern, und mit mir viele andere!
Hedwig Behnisch.
Lehmdamm 80a.
(Werdende „Malerin“.)
a weiter am Rand v. S. 4: lesen könnte. Kaufen…ich werde Sie; b weiter am Rand v. S. 1: immer bewundern, und…(Werdende „Malerin“.)