Daniel Georg Becker an Ernst Haeckel, Heppenheim, 14. Juni 1904
Verehrter Freund.
„Alles ist nichts.“ – Nur Eines erübrigt! die Freunde an Kunst und Natur – NB im 70ten Jahre des Lebens, ohne Geschlechtsherabziehung!
Ich schreibe dies auf meiner Veranda, von welcher der Blick auf vier, leicht zu erreichende Bergespitzen schweift. Hier, im Syenit-Granitgebiet der herrlichen Bergstraße habe ich für meinen Lebensrest ein Villachen gekauft und baar bezahlt. Die Starkenburg schaut auf meinen Schreibtisch herab, die frühere Rohheit und Schlechtigkeit der Menschen in ihrem Größenwahn predigend, indem sie uns mahnt „macht es nicht mehr so wie meine ehemaligen Insassen.“
Gerade so wie unsere sogenannten Seelsorger uns durch ihre Art zu wirken, heute zum Ausüben des Gegentheiles von dem was sie predigen a veranlassen. Indem ihr, in die Schafställe geschrieener Secktenhaß, die einstige Bruderreligion zum Aufkeimen düngt! Vielleicht ist mein Glaube an den Altruismus überspannt. Aber ich hoffe, lebe noch! ||
Bis der „Monismus“ den Menschen ins Gemüth geht, kommt vielleicht erst noch eine Inquisition, wenn auch nicht durch die früheren Mönche hervorgerufen, so doch durch den Jesuitismus, das Hauptrad im Getriebe des Macht- und Gelderwerbes! –
E. Hartmann hat recht wenn er sagt „in der Reifezeit können Mädchen sogar geistreich werden.“ Unsere Thekla Schneider war es. Jetzt, wo ihre Schwester heirathet, – die reine lüneburger Haide! Aber in große Wuth gerieth sie unlängst, als Sussis Bräutigam ihr, in Voraussetzung der Rechten, ein brillantes Rosenbouquet brachte. Wenn es nur dabei bleibt!
Möbius „der psychologische Schwachsinn des Weibes“ (eine Broschüre die den Verfasser reich machte) trifft den Nagel auf den Kopf! – Daß das Weib anders als der Mann schließt u. denkt, weiß die Welt! Aber warum diese Wesen so denken müssen? Dies weist Möbius als Arzt nach. Meine Tochter und einige andere Femininis stimmen seinen Ausführungen vollkommen bei. Aber die Anderen!!! ||
Wer lachen will, lese die tobenden Ergüsse (die humoristischerweise beigedruckt sind) welche die tiefbeleidigte Beschränktheit mit Beihülfe ihrer Pantoffellehehälften aus dem Wassersturz ihrer Entrüstung in den gemeinsten Schreibweisen über den armen Doktor ergehen lassen. Ich habe infolge der Anregung umfangreiche Schädelmessungen bei mir befreundeten Weibern und Männern angestellt.
– Es trifft, mit seltenen Ausnahmen, glänzend zu! Wir könnten einen herrlichen Reichstag haben, wenn durch ministerielle Verordnung vor Antritt des Mandats der Schädelumfang des Betreffenden notiert würde. Unter 57–58 Cmb dürfte keiner eintreten, aber 60 bis 62 und vielleicht darüber wären die Willkommensten. Bismark hatte 61 Cm. Und das Schönste wäre „daß sich keiner der Abgewiesenen beleidigt fühlen könnte, da er, oder seine Natur ja selbst die Schuld hat. Sprechen Sie, als Weltgröße, v. Bülow einmal den Gedanken aus. Er verhülfe ihm, ausgeführt, aus dem ewigen Dilemma. ||
Eben hebt im „halben Mond“ im Hôtelgarten die ausgezeichnete wormser Soldatencapelle ihr Programm an. Die Töne quellen aus dem Laub hervor in ganzer Fülle und zauberischem pp! Und ich genieße kostenlos als zweitnächster Nachbar das Nichtzuverschließende. Ich muß zum Schluß. Die Töne binden die Feder!
Meine Adresse ist „Heppenheim, Bergstraße Liebigstraße N. 2“, falls Sie mich mal mit Ihrem Besuche beehren wollten.
Mit den herzlichsten Grüßen an Sie Beide
Ihr 73er
D. G. Becker
14/6/4
a gestr.: zu thun; b eingef.: Cm