Daniel Georg Becker an Ernst Haeckel, o. O., 21. Juni 1903
Hochverehrter Freud.
Ihre liebe Karte hat mich doppelt angenehm berührt. Erstens, weil es keine Ansichtkarte war, zweitens Ihrer freundlichen Ausdrucksweise wegen. Ich danke hierfür von ganzem Herzen. Die Ansichtkarten haben vor mir Ruhe. Nur wenn sie das Verdienst eigener Zeichnung oder künstlerischer Ausführung haben, erachte ich derartige Blättchen für angebracht. Die Masse Schund aber womit die Erde bestreut wird, dokumentiert eine unsagbare Geistesarmuth der Schreiber. Je weniger Platz zur Mittheilung, desto besser! Anderseits kommen die, welche ihre Zeit nöthig haben, schneller durch die sich immer wahrenden || Anforderungen der gesellschaftlichen Rücksichten durch. Und nun erst der, welcher, so wie Sie, sich durch seine Begeisterung für die wahre Erkenntniß unserer Heimath so hoch gestellt hat, daß er von aller gebildeten und ungebildeten Welt gesehen wird –, muß er nicht mit Freude das neue Mittel des Kurzschlusses ergreifen, um, abgesehen von den paar Ergüssen aufrichtiger Verehrung, den Fragen Jener die ihn nicht verstehen können oder wollen, rasch zu entgehen? –
So hat eben Alles zwei Seiten!
Selbst ein einseitiger Mensch, auch, Paganinis Geige, als er im Loch saß, hatte nur Eine, welche aber keine „E“, sondern „A“, und doch die G-saite war. Um Ihre Geduld nicht zu toll in Anspruch zu nehmen, theile ich Ihnen, verehrter Mann, gewiß zu Ihrer Verwunderung mit „daß die übersandte || Frucht, die köstlich süß war, nicht von Solanum lykopersicum, sondern von Vitis vinifera, unserem Frühgutedel eine Beere ist. Er heißt Bianca capello, und hat an einem Stock in meinem Garten die Eigenschaft, 2–3–4 spaltige Beeren, bis zu 10 hervor zu bringen. Die Abnormität kam bis jetzt nur einmal vor, war vielleicht vor Jahren schon da, und wurde von der blinden Genußsucht nicht bemerkt.
Jetzt glaube ich, daß Jeder, bei der Beurtheilung, mit Solanum hereinfällt! Die Else, älteste Schwester der Zwillinge, ist eben glückliche Braut.
Da ich seit Tag- und Nachtgleiche mit der Sonne aufstehe, (seit Jahren) konnte ich dieses Schreiben schon um 5 Uhr früh, nach dem Frühstück, endigen u. beginnen. O! Wie sind die Morgenstunden schön!
Ihr aufrichtiger Verehrer
D. G. Becker
21/6/3