Daniel Georg Becker an Ernst Haeckel, Rödelheim, 2. November 1901
Hochverehrter Denker.
Ein Gleichaltriger legt Ihnen hiermit den Ausdruck seiner Bewunderung Ihres Riesenschaffens zu Füßen.
Diese meine Verehrung für Sie, geehrter Herr, führt mich zu dem Schlusse, daß Sie ernstem (wenn auch kleinem) Streben Anderera in Naturwissenschaft b nicht abhold sind. Ich erlaube mir deßhalb bei Ihnen anzuklopfen, indem ich die wenigen Beobachtungen, welche mir in meinem Bißchen „Sein“ zu machen geglückt sind, Ihrem Gut- oder Schlechtachten unterbreite.
Mein verstorbener Freund W. Hofmeister in Leipzig, (Professor nur mit Gymnasialbildung) zuletzt in Göttingen, || gab mir in uneigennützigster Weise die zu meinen mikroscopischen Untersuchungen unerläßlichsten Mittel in Gestalt von Werken sowohl, als auch durch Überlassung eines starken Objektives für mein damals noch sehr unzulängliches Instrument.
Ich machte auch mit benanntem Objektiv eine Entdeckung über welche er mir schrieb „Wo haben Sie Ihre Augen her? Darf ich, über Ihren Namen, die Beobachtung in mein botanisches Werk aufnehmen?
Das war eine Freude!
Die Beobachtung betraf den Befruchtungsakt bei Closterium, worüber ich Ihnen auf Wunsch gerne Mittheilung mache. Vorläufig beschränke ich mich auf ein Mittheilung über Vorticella neb. „Ich sagte mir stets, daß eine strenge || Beobachtung der kleinsten Lebewesen nur dann möglich, wenn die Wandlungen von ein und demselben Objekt, und nicht an demc der Menge immer neu entnommenen constatiert würden. Es mußte gehen! Dieses „Muß“ war durch jahrelanges Manipulieren theuer erkauft! Aber es war erkauft! Eine Frucht dieses Verfahrens war die Wahrnehmung „daß Vorticella eine Pseudomorphose“! Es geschieht bei dem Thier, um mit E. Bär zu reden „Etwas für die Freiheit.“ Das Endresultat ist „Glaucoma scintillans.“ Der geübte Beobachter wird sehen, ohne an Verwandlung zu denken, Etwas Auffälliges in der verwandten Färbung und der Lippenstellung mit der des Glockenthieres || wahrgenommen haben. Die näheren Datas des Vorganges würde ich sehr gern zu Ihrer Verfügung stellen mit noch verschiedenen Anderen, wenn ich wüßte „daß ich Ihre Zeit und Ihr Wollen nicht zu sehr dadurch in Anspruch nähme.“ – Sie haben ganz recht!
Dieser mein Brief ein Beweis! Eine Nöthigung durch das vorher Erfahrene muß vorangegangen sein, dann erst können wir wollen oder nichtwollen. Und als solche Nöthigung muß doch jeder Brief gelten. Doch ich habe Ihnen vielleicht jetzt, oder schon lange, zu viel geplaudert, deßhalb genehmigen Sie den Ausdruck tiefster Verehrung
Ihres
D. G. Becker.
Rödelstein bei
Frankfurt m
sossenheimer Str 5.
2/11/1
a eingef.: Anderer; b gestr.: Anderer; c eingef.: dem