August Jassoy an Ernst Haeckel, Frankfurt a. M., 25. Oktober 1903

Frankfurt a/M. den 25ten October 1903

Senckenbergische

Naturforschende Gesellschaft

An

Herrn Professor Dr. Ernst Haeckel.

in

Jena.

Sehr geehrter Herr Professor!

Im Auftrage der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft habe ich die hohe Ehre, Ihnen, verehrter Herr Professor, Dank zu sagen für die Uebersendung der fünften Auflage der „Anthropogenie“, welche in der Bücherei der Gesellschaft einen Ehrenplatz einnehmen wird. Wir sind Ihnen um so mehr zu Dank verpflichtet, als wir erst vor ganz kurzer Zeit durch das Geschenk der „Welträtsel“ überrascht wurden u. beide Werke mit Ihrer eigenhändigen Widmung versehen sind.

Ich möchte indessen diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, Ihnen, hochverehrter Herr Professor, auch ganz persönlich Dank zu sagen. Wenn in der Senckenbergischen Gesellschaft so zahlreiche Laien, wie z. B. ich selbst, ehrenamtlich tätig sind, wobei wir natürlich unsere Aufgabe nur darin erblicken, der Gesellschaft die Wege zu ebnen, ihr Geld, Sammlungen, Sammlungsräume u. Lehrmittel zu verschaffen, naturwissenschaftliche Reisen zu fördern u. in weiten Kreisen das Interesse an naturwissenschaftlichen Studien anzuregen, so haben besonders Sie, hochgeehrter Herr, uns Laien zu dieser freudigen Mitarbeiterschaft herangebildet.

Ihre, im besten Sinne des Wortes, populären Vorträge, Ihre Schöpfungsgeschichte, die Welträtsel, die Kunstformen in der Natur, Ihre Reisebriefe u. s. w. haben uns den ungeheuren Wert der naturwissenschaftlichen Erkenntnis klargemacht. ||

Jeder heftige Angriff der Gegner, sowohl auf naturwissenschaftlichem wie auf religiös philosophischem Gebiet, hat Ihnen neue Verehrer erweckt, denn er hat uns gezwungen, die Originalschriften des so stark Angefeindeten zu lesen.

Wer aber diese Schriften aufmerksam und vorurteilsfrei gelesen hat, wird Ihnen sein Leben lang dankbar sein für die Fülle der Anregungen, die Sie ihm gegeben, auch der, der Ihre oft allzukühnen Schlußfolgerungen nicht in allen Punkten zu teilen vermag, nicht weil er glaubt, daß viele Welträtsel nie gelöst werden können, wohl aber, weil er sieht, daß sie heute noch unlösbar sind. So schreckt mich als Chemiker am meisten die tiefe Kluft zwischen einem Gemenge noch so compliciert gebauter Eiweißstoffe und dem „lebenden“ Protoplasma wie unsere heutige völlige Unkenntnis von dem „Wesen“ der Substanz.

Aber ich kenne keinen größeren Genuß als beim Wandern in Wald u. Feld Naturstudien zu betreiben, dabei Ihren tausendfachen Anregungen zu folgen und andere zu eigenen Beobachtungen anzuregen. Vielleicht interessiert Sie auch, daß in unserem Museum unter Anleitung von Herrn Dr. Römer, Ihrem früheren Assistenten, täglich eine Dame arbeitet, die nach Verlust des Gatten u. des einzigen Kindes Ruhe und Trost in naturwissenschaftlicher Tätigkeit fand. Und hiermit komme ich auf einen weiteren Punkt.

Auch in religiösen Dingen bin ich, wie viele andere, hauptsächlich durch Ihre Schriften ein freierer Mensch geworden. Einer Hugenottenfamilie entsprossen, die einst von der päpstlichen Kirche verfolgt u. aus dem Vaterland zu fliehen genötigt worden war, hatte ich von Haus aus jeden Glauben anderer achten lernen aus der Erkenntnis der Unmöglichkeit, die Gewissen zwingen zu wollen. Ihre „Welträtsel“ haben mich auf einen höheren Standpunkt geführt. Der moderne Mensch, der Kunst u. Wissenschaft besitzt, bedarf keiner Kirche mehr, deren Dogmen in Widerspruch stehen zu allem, was das „unfehlbare“ Buch der Natur ihn lehrt. Aber die moderne Naturerkenntnis wirkt nicht blos negativ, sondern sie umfaßta auch die großen ethischen Grundwahrheiten der Religion nur befreit wie vom Dogma so von der Natur- und Kulturverachtung der christlichen Kirchen. Diese Geistesbefreiung werde ich Ihnen nie genug danken können. Verzeihen Sie schließlich diese höchst persönlichen Ergüsse.

Mit der größten Dankbarkeit u. Verehrung

hochachtungsvoll

Dr. A Jassoy.

z. Zeit correspondierender Sekretär der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft.

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Brief Metadaten

ID
773
Gattung
Brief ohne Umschlag
Institution von
Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft Frankfurt a. M.
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Zielort
Zielland
Deutschland
Datierung
25.10.1903
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
2
Format
22,5 x 28,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 773
Zitiervorlage
Jassoy, August an Haeckel, Ernst; Frankfurt am Main; 25.10.1903; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_773