Leopold Besser an Ernst Haeckel, Bonn, [28./ 29. Mai] 1898

Bonn Pfingsten 98

Hochgeschätzter Freund!

Ich klopfe in innerer Erregung an Ihre Thür. Verworn (Allgem. Physiol. pg. 96)a schreibt: „Ganz gewiß existirt dieser Stein, aber er existirt nicht außer meiner Psyche.“ Und Verworn begründet dieses Dictum damit, daß im sinnes-physiologischen Proceß uns nur „Empfindungen“ zukämen. Ist’s denn heute nur noch möglich, daß ein Forscher wie Verworn so vom Wort getäuscht wird!

Gehen denn, wenn meiner Hand Nerven einen Druck von der des Freundes empfangen, nicht Zustands-Veränderungen in den Vater’schen Körperchen jener meiner Hand vor! Sind’s nicht, was Helmholtz bewiesen, die draußen schwingenden Körner, die ohne jede Psyche ihre Fortsetzung, ihren motivationskräftigen Reiz, ihre kinetische Energie dem Cortischen Organ übergeben zubringenb! Ist nicht jeder Reiz lediglich Energetik aus irgend einer Potenz! ||

Die Welt besteht aus „Teilen“, so sagen wir.c Die Ordnung, das Gesetz, d. i. die Succession, die Nachfolge zu begreifen und fest zu stellen, in derd der Welt Laufe sich vollzieht, ist menschliche Facultas sogut wie menschliche Grenze. Aber nie werden wir uns „Teil“ u. „Energie“ zu trennen, nie aus dem Wirkenden u. Bewirkten mit wissenschaftlichen Gründen ein Doppeltes, einen Dualismus zu schaffen vermögen.

Entweder werden wir Menschen uns als eine Einheit begreifen oder uns überhaupt nicht begreifen, ganz gewiß nicht mit Verworn’s Psyche! –

Energie-Übergänge sind doch keine Zerreißungen, keine Trennungen, keine Rupturen des Geschehens. –

Transformismus bedingt noch keinen Dualismus. –f

Weiß denn die Ameise oder Lerche etwas von diesem Dualismus? Verworn nennt seine Welt-Anschauung monistisch. Ich kann das nur einen Mißbrauch des Wortes nennen, denn damit vermag Verworn den Stein nicht aus der Welt zu entfernen, daß er ihng dash Produkt einer psychischen Unfehlbarkeit nennt! Neben der Verwornschen Psyche bleibt der Stein noch immer auf der Erde liegen. ||

Unsere Tiere haben doch wohl auch Empfindungen, denn der geschlagene Hund schreit.

Haben sie auch eine Psyche? Woher, wohin mit ihr? Tödten wir siei im geschlachteten Rind?

Wie in dem herrlich einheitlichen Leben der homerischen Menschen der Gott wirkungskräftig im Arrm des Speer-werfenden Mannes oder in der Treue der ausharrenden Gattin war, wie diese noch durch keines philosophisches Dualismus Blässe ungekränkelten Menschen sich einheitlich fühlten in ihrem Thun, so lebt’s Tier hin in seiner Einheit von Empfindung und Thun. Es ist sein ganzes, volles, monistisches Geschehen in dieser reich geformten Tierwelt.

Aus der Beharrungs-Fähigkeit der Eiweiß-Synthese gegenüber den Reizenj, aus diesem Eins-Werden derselben mit Energieen – wir Menschen nennen sie ja nurk „Teile“ – ist jene Plasticität entstanden, ausl deren Zellen-Form die organische Welt sich aufbaut. – Sprechen wir von einer Psyche, wenn Hydrogen sich mit Oxygen verbindet? Was gibt dam Verworn ein Recht, von ihr zu reden, wenn Energien sichn zur Eiweiß-Republik zu gesellen? ||

Virchow verhöhnte die „Commandit-Gesellschaft Wasser-Kohlensauer- und Stickstoff.“ Warum nicht auch die von Hydrogen und Oxygeno des Wassers?

Leben ist Energieen-Austausch in gasförmiger, flüssiger oder fester Form. Brauchen oder könnenp wir mehr von ihnen zu wissen, als die Ordnung, in der sie auf unsere Organe einwirken? Genügt denn Verworn das Gesetz nicht? Spinnt denn die Arachnide ihr Netz etwa ohne Empfindung? Krümmt sich das Segment des zerschnittenen Regenwurms ohne solche? Ist nicht alles tierisches Thun gekennzeichnet durch den motorischen Ausschlag auf Reize!

Wozu um aller Welt willen in dies monistische Geschehen hinein nun von autoritativer Seite aus von Neuemq dieses Stabiliren einer Psyche r durch Prof. Verworn? Ah ich begreife! Weil wir reden, weil wir Worte bilden, weil wir Sprache haben. Wir erlebten’s nicht, daß das Menschen-Hirn s nach vielleicht Jahrmillionen eine Accumulation aller special-Formen von Gehirnen isolirter Energieen darstellt. Wir sehen das Spiel des millionenfach gegliederten Instruments, das da im wachen Zustand unablässig fungibel ist, nicht im Mikroscop. Wirt haben seit tausenden von Jahren diesem monistischen Ablauf organischen Geschehens, diesen motorischen Ausschlägen in unseren Laut-Sprech-Elementen bildenden „lebenden Mechanismen“ schönen „herrlichen“ Ausdruck gegeben. Wiru haben [im Zwang, für jedes erscheinende || b. auch das vorliegende a. zu suchen] auch jenen einheitlichen Ablauf organischen Geschehens mit dem dualistischen „Subject und Object“ auseinandergerissen und nun, nachdem wir seit Anaxagoras mit dieserv Zweiwelt uns abquälen, nun stabilirt Professor Verworn am Wort „Empfindung“ eine Psyche, die derselben Fakultät Sinnes-Physiologie als eine Kette rein organischer Vorgänge bezeichnet!

Durch des Umstandes, daß wir mit all unserer Sinnlichkeit lediglich an die Nachfolge der Reize gebunden sind, daß wir nichts vermögen, als diese gesetzliche Verknüpfung, dies einzige unsere Erkenntniß ausmachende Band fest zu stellen, kamen die Menschen in’s Philosophiren. Sie hielten Worte, die sie für ein vorausgehendes – wie sie wähnten, „verursachendes“ vid. das berüchtigte, angeblich [einer apriorischen Erkenntnißform] entstammende Causalitäts-Bedürfniß.w– u., gebildet, für Wesenheiten, für Realitäten. Mit diesen „Universalien“ trieben sie ihr philosophisches Handwerk in einer die Völker blendenden Begriffs-Wissenschaft, die der Aristotelische Thomismus vor Roms Gnaden heute noch urbi et orbi vorsetzt, resp.x mit der Rom bis zur Stunde die Welt täuscht und betrügt. – Und als Roszellinus diese berückenden „Nomina“ nur für einen „flatus vocis“ erklärt, hätte ihn Rom in Soissons verbrannt, wenn es ihn erwischt hätte. ||

Noch so furchtbar aber ist diese Tyrannei des Wortes, daß trotz der Shakespear’schen Warnung an Horatis ein Professor Verworn sich noch vom Wort „Empfindung“ täuschen läßt!

Gewiß sind wir Menschen, sobald wir für unsere Arbeit und Eigentum Sorge zu tragen u. Ordnung zu schaffen, uns anschicken, an’s Wort, resp. an dasy zu autoritärer Geltung erhobene Wort, d. i. den Begriff gewiesen. Ohne Begriffe handeln wir nur den Tieren gleich im Instinct „von Hunger u. von Liebe“, aber jedes Wort, jeder „flatus vocis“, dessen Herkunft einem Gebiete entnommen ist, in dem die Thatsachen, von denen unsere Sinnlichkeit bedingt ist, nichts gelten, ist absolut wertlos.

Nur die Welt der Reize, die einem Individuum zum Material seines Erfahrens wurdenz, haben für dasselbe den Wert der Wirklichkeit und Wahrheit. Deßhalb kommt gar nichts auf Psyche oder Nicht-Psyche sondern nur Alles nur darauf an, || daß der Mensch, wenn er Ordnungen für sein Leben gewinnen will, solche Dinge erfährt, die sich innerhalb des Rahmens der Naturgesetzlichkeit vollziehen. Nur so wird ihm Wahrheit. Auf welchem Wege d. h. im Wahn, eine Psyche vermittelt ihm das Erfahren oder in dem Überzeugtsein vom organischen Geschehenaa er das Gesetz erfährt, ist thatsächlich nebensächlich. Nur daß er’s erfährt, thut not.bb Mir nur will scheinen, daß kein Mensch den Begriff Naturgesetzlichkeit gefunden hätte, wenn nicht die Nachfolge der Reize, wenn nicht Tag u. Nacht, nicht Leben und Tod cc wären u. der wirkliche Stein mit seiner Schwere nichtdd im Wege gelegen hätte. –

Erst in diesen Tagen, wo ich – zu spätee ‒ Verworn lese, ff packt mich seine Begriffs-Rückständigkeit so, daß [ich] Ihnen das Herz auszuschütten nicht umhinkonnte.

Ihr

Besser.

In welchem Monat werden Sie unser Gast sein?

a eingef.: (Allgem. Physiol. pg. 96); b eingef.: zubringen; c eingef.: so sagen wir.; d korr. aus: dem; e eingef.: der Welt Lauf; f eingef.: Transformismus bedingt ... Dualismus. –; g gestr.: von; eingef.: ihn; h korr. aus: dem; i eingef.: sie; j eingef.: gegenüber den Reizen; k eingef.: ja nur; l eingef.: aus; m eingef.: da; n eingef.: sich; o eingef.: von H. und O.; p eingef.: oder können; q eingef.: von Neuem; r gestr.: durch; s gestr.: eine; t eingef.: Wir; u eingef.: Wir; v eingef.: dieser; w mit Einfügungszeichen eingef.: vid. Das … Causalitäts-Bedürfnis.; x eingef: resp.; y gestr.: dars, eingef.: das; z korr. aus: würden; aa mit Einfügungszeichen eingef.: d. h. im … organischen Geschehen; bb eingef.: fährt, thut not.; cc gestr.: ge; dd eingef.: mit seiner Schwere nicht; ee korr. aus: später; ff gestr.: xxx

Brief Metadaten

ID
7618
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
29.05.1898
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
21,5 x 27,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 7618
Zitiervorlage
Besser, Leopold an Haeckel, Ernst; Bonn; 29.05.1898; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_7618