Keller, Conrad

Conrad Keller an Ernst Haeckel, Zürich, 7. Februar 1919

Zürich, dℓ. 7. Februar 1919

Hochverehrter Herr College,

Lieber alter Freund!

Sie feiern in den nächsten Tagen Ihren 85.Geburtstag und ich sende Ihnen zu demselben meine allerherzlichsten Glückwünsche. Diesmal sind es ganz ungewöhnliche Zeitumstände, unter denen Sie Ihr Geburtstagsfest begehen. Je als mehr [!] werden Sie heute das glückliche Geschick preisen, dass Ihre Entwicklung und Ihre grossartige Lebensarbeit in eine wirklich grosse und schöne Zeit fiel – heute haben wir keine grosse Zeit und die Zukunft sieht recht trübe aus.

Unsere europäische Kultur ist zertrümmert. Ob sie von einem || neuen Geschlecht wieder aufgebaut wird, ist fraglich. Sonst Optimist, neige ich doch stark zu dem Pessimismus eueres Hans Delbrück, der die Meinung ganz ehrlich heraussagt.

Das Unglück, das jählings über Ihr Vaterland hereinbrach, hat bei uns in der Schweiz einen sehr tiefen Eindruck gemacht, aber auch die Sympathien vermehrt.

Wir fühlen zu sehr, wie viel wir der deutschen Kultur verdanken u. fürchten, dass dieser geistige Nährboden zerstört ist. Es gibt uns namentlich die Zukunft der deutschen Hochschulen u. Institute Anlass zu Besorgniss.

Wir haben in der Schweiz unseren Kulturbesitz glücklich über die Katastrophe hinweg gerettet, aber die neue Wendung der Dinge hat hier das grösste Unbehagen ausgelöst. Wir trauen der Entente nicht! Zwar wird es wohl heissen: ||

Die Entente bleibt uns immer gut

Wenn man ihren Willen thut!

Deutschland hat uns gegenüber eine ehrliche Rolle gespielt, die Entente will uns bevormunden und wir fürchten sehr für unsere Neutralitätsrechte.

Immerhin sagen wir uns, dass der tüchtige Kern des deutschen Volkes nicht verloren gehen kann und man sich wieder aufzurichten vermag. Viel hängt naturgemäss von den Friedensbedingungen ab. Sind diese zu hart, so sind wir in der deutschen Schweiz wohl ebenfalls verloren.

Auf dem Gebiet der Ideen ist bisher so viel gewonnen, dass Ihre Anschauungen völlig freie Bahn haben. Sie werden also ganz zur Geltung kommen.

Mehr als je ist die Jugend empfänglich für eine naturwissenschaftlich orientierte Lebensanschauung. Ich erfahre das in diesem Winter || in erfreulicher Weise. Meine Vorlesungen über Darwinismus sind stets überfüllt u. auch die übrigen Collegien sind vorzüglich besucht. An Arbeit fehlt es also nicht.

Dass Ihnen am Schluss Ihres Lebens noch so schmerzlicher Erfahrungen nicht erspart blieben, bedaure ich aus vollem Herzen. Vertrauen wir aber auf die unzerstörbare Volkskraft u. in dieser Hoffnung verbleibe ich stetsfort mit herzlichen Grüssen

Ihr alter Freund

C.Keller

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
07.02.1919
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 6793
ID
6793