Conrad Keller an Ernst Haeckel, Zürich, 8. Dezember 1917
Zürich, dℓ. 8. December 1917
Hochverehrter Freund u. College!
Sie haben mich aufs angenehmste überrascht durch die Zusendung Ihrer neuesten Schrift: „Kristallseelen“, wofür ich Ihnen meinen herzlichen Dank ausspreche.
Das Thema ist gewiss originell, aber ich glaube nicht, dass Sie in naturwissenschaftlichen Kreisen mit Ihrer kühnen Idee auf Widerspruch stossen.
Sie sind ja vollkommen consequent. Tierseele u. Pflanzenseele wird ja zugegeben, eine Zellseele ist selbstverständlich.
Und da man immer mehr Brücken vom Organischen zum Anorganischen findet, so sagt doch die einfachste Logik, dass auch das Anorganische eine Art Beseelung haben muss. || Es kann sich da nur um quantitative Unterschiede handeln.
Um mich erkenntlich zu zeigen, habe ich gestern als Drucksache mein neuestes Werk an Sie abgehen lassen.
Der Gegenstand wird Ihnen seltsam vorkommen, es sind afrikanische Geschichten, die zum Teil recht erbaulich sind u. Ihnen vielleicht Unterhaltung gewähren. Von „Kristallseelen“ ist darin allerdings keine Rede, wohl aber von den allerschwärzesten „Diplomatenseelen“, deren Thaten schonungslos beleuchtet werden.
Ich glaube, dass gerade jetzt meine Aufklärungen in Deutschland Beachtung finden werden. ||
Im Uebrigen geht es mir stets gut. Mein neues Institut bewährt sich vortrefflich und ich habe diesen Winter in meinen verschiedenen Collegien erheblich über 200 Zuhörer.
Interessant ist, dass gerade jetzt das Interesse am Darwinismus ungemein zunimmt. In meiner Vorlesung darüber ist das grosse Auditorium dicht gefüllt.
Ich hoffe, dass es Ihnen in Jena stets gut geht. Grüssen Sie mir Professor Schaxel.
Mit herzlichem Weihnachtsgruss an Sie verbleibe ich stetsfort
Ihr alter
(demnächst 70jähriger)
C.Keller